Die Schneeverwehten: Der ewige Fall (Teil 4) #Schneeverwehte

by Bücherstadt Kurier

End­lich stand sie am Abhang. Vor ihr tat sich die Dun­kel­heit auf, nach der sie so lange gesucht hatte.

Seit drei Äonen war sie durch die Welt gewan­dert, hatte die alten und neuen Berge bestie­gen, immer auf der Suche nach die­sem Abhang, der sich nun vor ihr auftat.

Sie wusste nicht mehr, warum sie los­ge­gan­gen war. Ob sie die Stille des Schwei­gens gegen die Stille der Ein­sam­keit ein­tau­schen wollte oder ob sie es ein­fach nicht mehr ertrug, regungs­los im Schnee zu sit­zen. Viel­leicht wollte sie sich auch lang­sam auf­lö­sen; sie erin­nerte sich nicht.

So hatte sie ihren Weg ohne Grund und Ziel begon­nen. Setzte einen Fuß vor den ande­ren, immer gera­de­aus, den Blick starr auf den Boden gerichtet.

Zorn schwelte in ihr, als sie ein Zeit­al­ter lang immer nur das glei­che Weiß sah und nicht sagen konnte, ob sie nur einen Tages­marsch weit gekom­men war oder die Welt schon drei­mal umrun­det hatte. Doch in dem Moment, an dem Wut und Unver­ständ­nis bei­nahe gewon­nen hät­ten, schärfte sich ihr Blick und sie erkannte For­men im Schnee: alte Stra­ßen, die die Welt ver­ban­den, Blu­men­wie­sen, die die Erde bedeckt hat­ten, Geschich­ten, die unter dem Schnee begra­ben lagen und die von ihm in neuer Form wei­ter­erzählt wur­den. Sie ent­deckte ein Fun­keln im Schnee, das sie nicht gleich ver­stand, bis sie erkannte, dass es eine feine Spie­ge­lung war: Sie hob zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit wie­der den Kopf und blickte in den Him­mel, der für sie bis­her ein­fach nur schwarz gewe­sen war. Nun blickte sie nicht län­ger auf den lee­ren Raum über ihr, son­dern bemerkte ein Fun­keln und Leuch­ten, das alles erhellte.

Die Sterne soll­ten ihr Ziel sein, beschloss sie.

Sie setzte wei­ter­hin Schritt vor Schritt und über­legte, wie sie diese tau­send Son­nen errei­chen könnte.

Sie müsste flie­gen kön­nen, dachte die Schnee­wan­de­rin. Wenn sie nur den pas­sen­den Ort, den rich­ti­gen Start­punkt fände – das war ihre feste Über­zeu­gung – dann sollte es schon gelin­gen. Auf einem Gip­fel, dem höchs­ten Gip­fel wollte sie der Schwer­kraft ent­kom­men, sich vom Boden befreien und fliegen.

Die­sen Gedan­ken im Kopf wie­der­ho­lend ging sie wei­ter, oder begann viel­mehr ihren eigent­li­chen Weg.

Die wei­ten Ebe­nen, die end­lo­sen Schnee­fel­der wur­den zur Qual. Das Weiß erstreckte sich bis zum Hori­zont, wo es eine scharfe Grenze zu geben schien, an der sich das Weiß des Bodens vom Dun­kel des Him­mels trennte. Sie schien ihr manch­mal unüber­wind­bar. Die Grenze war nur eine Illu­sion, die nicht über­tre­ten wer­den konnte, weil sie sich mit jedem Schritt, den sie tat, ver­schob und wei­ter in die Ferne rückte. Das Weiß schien sich ewig zu erstre­cken und das Dun­kel des Him­mels, in dem die Sterne ver­hei­ßungs­voll fun­kel­ten, ließ sich nicht errei­chen. In sol­chen Momen­ten ver­gaß sie manch­mal fast, warum sie wei­ter­ging. Sie ver­fiel wie­der in die Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit ihrer frü­he­ren Zei­ten. Sie wurde lang­sa­mer und ihr Gang ver­lor von einem Schritt zum nächs­ten seine Kraft.

Sobald sich am Hori­zont ein Gebirge abzeich­nete, kehr­ten ihre Gedan­ken an den Sprung in den Him­mel zurück. Das Fun­keln des Schnees und der Sterne sprang in ihre Augen und ihr Schritt wurde fes­ter und schnel­ler. Sie eilte auf die Erhe­bung zu, zog sich an der Wand hoch, ganz gleich, wie steil sie war. Sie fand mit ihren Füßen immer Halt, bohrte ihre Hände durch den Schnee und griff nach dem Felsen,

Bis sie ganz oben stand.

Sie atmete die dünne Luft tief ein. Sie streckte ihre Arme in den Him­mel und spürte die kühle Wärme der Sterne auf ihren Hand­flä­chen. Sie schloss die Augen und genoss es, sich ihrem Ziel so nahe zu fühlen.

Als sie jedoch nach unten blickte, musste sie wie­der erken­nen, dass dies nicht der rich­tige Ort war, um auf­zu­stei­gen. Sie blieb ste­hen und genoss für eine Weile die Nähe zu den Ster­nen. Dann ging sie wei­ter, rutschte, rollte und stol­perte abwärts.

Die Berge, die sie erreichte, wur­den immer höher. Bis sie zum ers­ten Mal zu einem Gip­fel kam, der klei­ner war als der vor­he­rige. Sie spürte genau, dass sie sich beim letz­ten Mal den Ster­nen viel näher gefühlt hatte und begann an ihrer Idee zu zwei­feln. Ihr Wunsch war jedoch zu groß, um auf­zu­ge­ben und so ging sie weiter.

Ein Zeit­al­ter spä­ter schleppte sie sich über eine schein­bar end­lose Schnee­flä­che. Ihr Schritt war schwä­cher, ihre Ziel­stre­big­keit ließ nach. Das Fun­keln der Sterne: uner­reich­bar, dachte sie. Den­noch ging sie wei­ter, weil sie inzwi­schen nicht wusste, was sie tun sollte.

Plötz­lich stand sie an einer Kante, vor ihr ein Schlund. Auf ihrer Reise hatte sie viele Kra­ter und Schluch­ten gese­hen, an deren Grund aller­dings immer nur das glei­che Weiß gewar­tet hatte. Doch die­ser Abgrund war anders, führte so weit in die Tiefe, dass nichts mehr zu sehen war. Wäh­rend der Schnee das Fun­keln der Sterne spie­gelte, ent­sprach der Gra­ben mit all sei­ner Fins­ter­nis dem lee­ren Raum zwi­schen den Sternen.

Nach­dem sie lange in diese unbe­kannte Tiefe geschaut hatte, begriff sie, dass dies der Ort ist, nach dem sie gesucht hatte, der Moment, auf den sie zuge­gan­gen war.

Sie stellt sich ganz nah an die Kante und neigt ihren Kör­per leicht nach vorne, um direkt in den Abgrund zu bli­cken. Sie erkennt lau­ter kleine Punkte. Ein Licht, nach dem sie sich gesehnt hatte.

Sie beugt sich wei­ter vor, lässt ihre Kör­per­mitte über den Abhang schwe­ben. Neigt sich wei­ter, bis sich ihre Füße aus dem Schnee heben. Sie streckt ihre Arme hin­ter sich und neigt sich lang­sam wei­ter nach vorn, bis sie an die Grenze zwi­schen wei­ßem Schnee und schwar­zer Nacht stößt. Die nicht außer Reich­weite oder undurch­dring­lich ist; dies­mal ist sie fein und durch­läs­sig. Sie neigt sich noch etwas wei­ter, rutscht aus dem Schnee und fällt in die Dunkelheit.

Sie lässt sich fal­len und hofft.

Eine Sekunde ist da die Angst, in der der Schein des Schnees ver­blasst und die Schwer­kraft mit vol­ler Wucht an ihr zu zie­hen scheint.

Dann gibt es kein Oben und kein Unten mehr. Die Zeit wird von der Dun­kel­heit ver­schluckt und sie schwebt lang­sam nach unten.

Sie nähert sich dem Leuch­ten; es fun­kelt rundum.

Sie fällt durch die Sterne.

Sie streckt ihre Arme in alle Rich­tun­gen aus und greift nach dem Fun­keln und ver­brennt sich fast die Finger.

Sie fällt durch einen Sternenhaufen.

Dar­aus lösen sich drei kleine Son­nen, die sie eine Weile beglei­ten, bis sie einen Platz im Uni­ver­sum fin­den. Sie zwin­kern ihr zu, wäh­rend sie wei­ter durch das Ster­nen­meer gleitet.

Sie wird lang­sa­mer, wäh­rend sie beob­ach­tet, wie ein Paar Zwil­lings­sterne stirbt. Sie fällt mit­ten zwi­schen sie und sieht, wie ihr Licht lang­sam ver­blasst. Immer, wenn einer der bei­den Sterne die Hoff­nung ver­liert und die Angst vor dem Tod, die auch Ster­nen nicht fremd ist, über­mäch­tig wird, nimmt der andere alle Kraft zusam­men und leuch­tet auf. Sie ver­harrt und schaut dem Ver­blas­sen der Lich­ter zu.

Von einem Moment auf den ande­ren ver­glimmt das Leuch­ten der bei­den end­gül­tig. Sie wer­den nur kurz schwarz, bevor sie in einem bun­ten, wun­der­ba­ren Fun­ken­re­gen aus­ein­an­der­bre­chen. Und sie, die ewig fällt, ver­spricht den bei­den ganz leise mit einem lau­ten Schrei, die­sen Anblick nie­mals zu ver­ges­sen und ihren Tod zu ehren.

Es wird für eine Weile dunkel.

Dann kommt sie zu einer Gruppe von jun­gen Ster­nen, die gemein­sam ein Mus­ter bil­den, das zu kom­plex ist, um es zu beschrei­ben. Ihr Mus­ter ist so ein­dring­lich, dass sie instink­tiv spürt, dass sie außer­ge­wöhn­li­che Künst­ler vor sich hat, die mit ihren Kör­pern eine Sin­fo­nie aus Licht erschaf­fen, in der sie den Fun­ken­re­gen der Zwil­lings­sterne zu erken­nen glaubte.

In die­sem Augen­blick scheint ihr die Reise durch den Schnee wie ein kur­zer Moment, nicht mehr als ein Blin­zeln – wäh­rend die Minute des Fal­lens für sie zu einer Ewig­keit wird.

Text: Thilo Sauer
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

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