Die Schneeverwehten: Vergessen (Teil 2) #Schneeverwehte

by Bücherstadt Kurier

Sie lag lange ver­ges­sen im Dun­keln, bevor sie die Augen öffnete.

Sie hatte gewar­tet, bis sie kein Mur­meln mehr hörte, kein Atmen, das aus tau­sen­den Mün­dern gleich­zei­tig zu kom­men schien, bis auch die letz­ten knir­schen­den Schritte ver­klun­gen waren.

Nun wagte sie, sich zu bewe­gen. Lang­sam, als müsste sie sich ihres Kör­pers erst wie­der bewusst wer­den, griff sie nach dem Holz, das sie begra­ben hatte. Mühe­voll kämpfte sie sich zurück in eine Welt, aus der sie ver­schwin­den wollte und die sich kom­plett gewan­delt hatte, von einem Gemälde zu einer ver­schwom­me­nen Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie. Am Nacht­him­mel fehl­ten die Pla­ne­ten, die Wan­de­rer, die sie immer beglei­tet hat­ten. Auf der Erde hatte Schnee – so schien es ihr – alles Leben unter sich begraben.

Wie ein Schlag spürte sie die Kälte im Gesicht. Sie tau­melte zurück und stürzte zwi­schen Holz­stü­cke, die über den gan­zen Hügel ver­teilt lagen, als könne der Schnee sie nicht ver­schwin­den las­sen. Sie griff nach einem gebo­ge­nen Stück. Weich lag es in ihrer Hand und war über­ra­schend warm, als könne das Holz die Sonne nicht ver­ges­sen, die die Bäume einst so stark gemacht hatte.

Sie drückte das Holz­stück an ihre Brust und schloss die Augen. Sie konnte sich noch erin­nern, wie die Lei­ter immer wei­ter in den Him­mel gewach­sen war. Sie alle hat­ten das Holz gesam­melt, bis ihr Werk bis in den Him­mel reichte. Ganz instink­tiv war klar gewe­sen, wer zuerst den Weg zur Sonne antre­ten sollte, wer folgte, wer zurück­blieb. Sie wusste noch, wie sie spürte, dass sie nun fol­gen sollte und wie sie mit vol­lem Élan die ers­ten Spros­sen nahm, immer wei­ter in den Him­mel stieg. Sie merkte kaum, dass nie­mand mehr hin­ter ihr war. Irgend­wann ver­nahm sie ein Knir­schen, das bestän­dig lau­ter wurde. Doch sie machte sich keine Gedan­ken, son­dern setzte ihren Auf­stieg fort.

Dann riss die Lei­ter direkt über ihren Hän­den aus­ein­an­der. Sie langte nach oben, doch die nächste Sprosse war zu weit weg. Sie erstarrte, hielt sich an der Lei­ter fest, die lang­sam, Faser für Faser, aus­ein­an­der­riss und in Rich­tung Boden sank.

Seit­dem musste auf der Welt eine Ewig­keit ver­gan­gen sein.

Für sie war es jedoch nur ein Moment, der nicht län­ger dau­erte als ein Lidschlag.

Vor­sich­tig öff­nete sie die Augen, kehrte aus ihrer Erin­ne­rung zurück in der Hoff­nung, dass es doch nicht so schlimm wäre. Sie blickte sich um und sah über­all nur eisi­ges Weiß. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Dass es so, wie es war, nicht rich­tig sein konnte: Sie war hier falsch. Und weil sie hier falsch war, musste es auch einen Weg dort­hin geben, wo sie eigent­lich hingehörte.

Das Holz­stück, immer noch fest an ihre Brust gedrückt, schenkte ihr Wärme, wäh­rend sie sich auf den Weg in den Wald machte. Schon von Wei­tem sah sie, wo sich die ande­ren Zurück­ge­las­se­nen ver­sam­melt hat­ten. Mit fes­ten Schrit­ten ging sie auf sie zu, sicher, dass sie ein gemein­sa­mes Schick­sal ver­band. Dann blieb sie hin­ter den Bäu­men ste­hen und beob­ach­tete, wie sich der Atem der ande­ren in der Luft ver­mischte, wie sie die Luft teil­ten. Sie rück­ten immer näher zusam­men, teil­ten ihre Wärme, wäh­rend sie, die ver­ges­sen wor­den war, nicht bereit war, etwas von ihrer Wärme zu tei­len. Sie sah, wie sie ein Knäuel bil­de­ten, eins wur­den. Sie wollte nichts lie­ber als Teil davon zu sein, doch sie ver­stand nicht, wie das gehen sollte. Sie erkannte, dass die ande­ren auf­hör­ten, vor Kälte zu zit­tern und sich an das Leben im Schnee gewöhn­ten. Sie konnte nicht auf­hö­ren, sich an das Holz­stück zu klam­mern, das ihr Wärme schenkte.

Weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, blieb sie ein­fach wei­ter ste­hen, das Holz­stück immer fest an die Brust gedrückt. Sie beob­ach­tete, wie sich einige von den Zurück­ge­las­se­nen im Schnee ver­gru­ben. Dann pas­sierte lange nichts. Irgend­wann stan­den ein­zelne von ihnen auf und gin­gen davon, jeder und jede von ihnen in eine andere Rich­tung. Lang­sam fan­den die Zurück­ge­las­se­nen ihre Spra­che wie­der. Es bil­de­ten sich Grup­pen, die nach­ein­an­der aus dem Wald zogen. Am Ende blieb nur noch ein Junge zurück. Sie beob­ach­tete ihn inter­es­siert, spürte so etwas wie eine Ver­bun­den­heit – viel­leicht weil er so ein­sam war wie sie, viel­leicht weil sie eine Wärme bei ihm spürte, an die sie sich noch gut erin­nern konnte. Schließ­lich öff­nete er die Augen und stand auf. Er kam nicht zu ihr. Er lief auf die offene Schnee­flä­che und ver­schwand schnell am Horizont.

Erst jetzt fühlte sie sich wirk­lich ein­sam, von allen ver­las­sen, vor allem von der Hoff­nung. Sie kehrte zur Lich­tung zurück und legte sich dort zwi­schen die Holz­stü­cke, die ihr ein wenig Wärme schenk­ten. Sie dachte immer wie­der an die Sonne, die sie ver­lo­ren hatte und an die Ein­sam­keit, die sie nun umgab. Manch­mal löste sich eine Träne aus ihrem Auge. Es waren die letz­ten Trä­nen, die auf die­ser Welt ver­gos­sen wurden.

Noch bevor sie zu Boden fal­len konn­ten, gefro­ren die sal­zi­gen Trop­fen zu Schnee­kris­tal­len, die vom Wind hin­weg­ge­tra­gen wur­den. Manch­mal wur­den sie bis in die Stadt geweht und dort noch sel­te­ner von einem Schnee­ver­weh­ten auf­ge­fan­gen, den alle darum benei­de­ten: Eine sol­che Schnee­flo­cke wurde als ein Zei­chen des höchs­ten Glücks verstanden.

Für ein Äon lag die Ver­ges­sene ein­sam und trau­rig im Schnee.

Dann fand eine Gruppe von Schnee­ver­weh­ten zu ihr, die einem Mann in einem roten Gewand folg­ten. Er erzähle, dass er es vor lan­ger Zeit in einem ver­las­se­nen Haus gefun­den hatte, wel­ches das Heim einer gött­li­chen Macht gewe­sen war.

Mit viel Inbrunst erklär­ten sie der Frau, die ver­ges­sen wor­den war, dass sie in alten Schrif­ten von einer Sonne gele­sen hat­ten, die eigent­lich am Him­mel ste­hen sollte. Dass in ihrer Welt nun ewige Nacht herrschte, hiel­ten sie für einen Feh­ler, den sie berei­ni­gen mussten.

„Wie soll das gehen?“, fragte die Ver­ges­sene vol­ler Hoffnung.

„Mit Gebet’n“, ant­wor­tete der Mann im roten Gewand. Sie erklär­ten ihr, dass sie durch die Welt zogen und Gebets­for­meln sam­mel­ten, Rituale und alte Schrif­ten, die sie über­all aus­pro­bier­ten. Sie folg­ten den Anwei­sun­gen in den Schrif­ten und rich­te­ten ihre Gebete an die ver­schwun­dene Sonne in der Hoff­nung, dass sie wie­der zu ihnen zurück­keh­ren würde.

Der Pre­di­ger erkannte, dass auch die Ver­ges­sene Inter­esse an ihren Ideen hatte. Doch sie wollte dem Ange­bot, sich ihnen anzu­schlie­ßen, nicht fol­gen. So lie­ßen die Son­nen­an­be­ter der Ver­ges­se­nen ein Buch mit gesam­mel­ten Gebe­ten da und tru­gen ihr auf, regel­mä­ßig zu beten, weil so viel­leicht ihre geliebte Sonne zurück­keh­ren würde.

Von da an kniete sie im Schnee, die Hände fest um das Stück Holz geschlos­sen, und mur­melte Gebete. Es geschah zwar nichts, doch es schien ihr, als könne sie nichts ande­res tun.

Irgend­wann erschien eine wei­tere Gruppe bei ihr. Vor­sich­tig näher­ten sie sich ihr. Sie hielt es für Ängst­lich­keit. Sie wuss­ten ver­mut­lich nicht, was sie von die­ser Frau hal­ten soll­ten. Schließ­lich setz­ten sie sich um sie und began­nen ihr Fra­gen zu stel­len. Als sie ihnen erklärte, dass sie gebe­tet hatte, damit die Welt wie­der zu einem wär­me­ren Ort wurde, lach­ten sie. Sie hat­ten ebenso wie der Pries­ter von der Sonne gele­sen, die vom Him­mel ver­schwun­den war. Anstatt Gebete aus einer son­nen­durch­flu­te­ten Zeit zu sam­meln, woll­ten sie hin­ge­gen her­aus­fin­den, warum die Sonne ver­schwun­den war, um so einen Weg zu ihr zurück­zu­fin­den. Sie waren Forschende.

Irgend­wann erzählte eine von ihnen von einem Pen­dant zur Sonne, das sie im Inne­ren der Erde ver­mu­tete und das man unbe­dingt unter­su­chen sollte. Noch bevor sie mehr dazu sagen konnte, unter­bra­chen die ande­ren sie: Ihre Theo­rie sei halt­los, zu schwie­rig, zu gefähr­lich. Sie ver­stummte und in ihrem Blick war zu erken­nen, dass sie die ande­ren nie aus­re­den ließen.

Die For­schen­den frag­ten, ob sie einige der Holz­stü­cke mit­neh­men dürf­ten. Obwohl der Frau, die ver­ges­sen wor­den war, nur ihr eige­nes Stück wich­tig war, ver­bot sie es zuerst. Die For­schen­den boten ihr einige der Schrif­ten an, die sie in den ver­las­se­nen Biblio­the­ken der Welt gesam­melt hat­ten. Dann zeig­ten sie ihr Werk­zeuge, die sie bei sich hat­ten. Nach lan­ger Zeit konn­ten sie sich eini­gen und die Wis­sen­schaft­ler gin­gen mit ihren Pro­ben fort und dis­ku­tier­ten bereits, was sie von die­sen war­men Höl­zern hal­ten sollten.

Die Ver­ges­sene blieb ruhig sit­zen, bis sie die Stim­men und Schritte der For­schen­den nicht mehr hören konnte. Dann nahm sie die kleine Schau­fel, die die For­schen­den ihr gege­ben hat­ten, und begann zu gra­ben. Sie konnte es nicht fas­sen, dass eine ganze Sonne unter ihren Füßen lodern sollte und doch war das Bild in ihr so stark, dass sie sich sicher war, dass es stimmte.

Also grub sie, immer wei­ter. Der Schnee rut­sche irgend­wann über ihr nach und ver­schloss das Loch, das das Letzte gewe­sen war, das noch an sie erin­nerte. Die Welt ver­gaß sie, wie auch sie ver­ges­sen wor­den war.

Sie grub immer wei­ter, bis sie spürte, wie es um sie herum wär­mer wurde. Sie ver­lor ihr Holz­stück, das ihr zuvor das wich­tigste auf der Welt gewe­sen war. Doch tief in ihrem Inne­ren hatte sie immer gewusst, dass es nur ein Ersatz war für eine Wärme, eine Hitze, die nun greif­bar vor ihr lag.

Also ver­gaß sie die Holz­stü­cke und grub wei­ter, bis sie end­lich auf Feuer stieß. Sie hielt inne und fragte sich, ob das ein Tor zur Sonne war, zu der sie frü­her ein­mal, vor lan­ger Zeit auf­ge­stie­gen war oder ob das eine eigene Sonne war, die nur ihr gehörte.

Sie würde es erfah­ren, denn nichts konnte sie nun noch davon abhal­ten, ihr Ziel, an dem sie schon vor Äonen hätte ankom­men sol­len, zu errei­chen. Sie genoss die Wärme, die Hitze auf der Haut, als sie end­lich mit der Sonne verschmolz.

Text: Thilo Sauer
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron
Hier geht es zum ers­ten Teil: Die Schnee­ver­weh­ten (Teil 1)

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