Die Schneeverwehten: Vom Verstummen der Erinnerungen (Teil 3) #Schneeverwehte

by Bücherstadt Kurier

Ein Junge blieb hin­ter den ande­ren Schnee­ver­weh­ten zurück. Als sie lang­sam von der Lich­tung wie­der in den Wald zogen, sich durch den Schnee pflüg­ten, ging er weit hin­ter ihnen. Es war, als würde ihn etwas zurück­hal­ten, als würde von der Lich­tung, dem Punkt an der Spitze der Welt ein Klang aus­ge­hen, den nur er hören konnte. Die ande­ren hat­ten diese zar­ten und rei­nen Töne viel­leicht zuvor gehört, ver­ga­ßen die Bedeu­tung jedoch lang­sam. Sie kehr­ten zurück in eine Welt, die eine andere wurde, ohne jemals wie­der an die­sen Moment der letz­ten Däm­me­rung zu den­ken. Was ihnen blieb, nach­dem die letzte Träne gefro­ren war und aller Schnee die Erde bedeckte, war die­ses unbe­stimm­bare Gefühl, dass etwas fehlte.

Als sich die Zurück­ge­las­se­nen auf der gro­ßen Ebene vor dem Wald ver­sam­mel­ten, hielt sich der Junge, der nicht ver­ges­sen hatte, am Rand. Sicher, auch er weinte, auch seine Haut färbte sich blau, auch sein Atem mischte sich mit dem Atem der Schnee­ver­weh­ten. Nur zögernd ging er zu ihnen, als sie sich eng umschlun­gen von der letz­ten Wärme in ihren Kör­pern ver­ab­schie­de­ten. Er ging zu ihnen, doch fand ihren Rhyth­mus nicht.

Er ver­stand nicht, warum er sich den ande­ren nicht nahe füh­len konnte und rät­selte lange, was an ihm anders war. Den­noch blieb er bei den Schnee­ver­weh­ten sit­zen und schwieg mit ihnen. Manch­mal hörte er, wie sie von einem Frü­her spra­chen und von Erin­ne­run­gen, die ver­blass­ten, bis die Ver­gan­gen­heit nur noch ein vages Gefühl war.

Da wurde ihm bewusst: Er konnte sich erinnern.

Er wollte sich an sei­nen Erin­ne­run­gen fest­hal­ten. Also kniff er die Augen zusam­men, um nichts zu verlieren.

Nur hin und wie­der öff­nete er seine Augen. Es war mehr ein Blin­zeln, sodass es nie­mand bemer­ken konnte. Er beob­ach­tete, wie ein­zelne ins unge­wisse Weiß zogen, jeder für sich und immer in eine andere Him­mels­rich­tung, so als würde sich jeder nach einem ande­ren Stern rich­ten. Er hörte, wie sich die übri­gen berat­schlag­ten. Sie fan­den sich zu Grup­pen zusam­men: Einige gin­gen zurück in die Stadt, andere zogen auf der Suche nach einem neuen Sinn in die Welt, wie­der andere erkann­ten kei­nen Sinn mehr und rie­fen das Recht des Stär­ke­ren und das Gesetz der Jagd aus. Er war Zeuge, als sich einige von ihnen im Schnee ein­gru­ben und verschwanden.

Schließ­lich blieb er als Ein­zi­ger zurück. In all der Zeit hatte er sich nicht bewegt und seine Augen fast immer geschlos­sen gehal­ten, um nichts zu ver­ges­sen: den leuch­ten­den Kreis am Him­mel, das warme Gefühl auf der Haut, die Kraft. Er fragte sich vol­ler Angst: Was würde aus ihnen wer­den, wenn sie ver­ges­sen wür­den, was Wärme bedeutet?

Irgend­wann befürch­tete er, dass auch er ver­ges­sen könnte und er strengte sich noch mehr an, kon­zen­trierte sich so stark auf die Bil­der und Emp­fin­dun­gen, dass der Schnee um ihn herum zu schmel­zen begann. Doch er merkte bald, dass er es nicht alleine schaf­fen würde. Er brauchte jeman­den, der ihm hel­fen konnte, die Kraft auf­zu­brin­gen, nicht zu ver­ges­sen. Jeman­den, für den er sich erin­nern konnte, dem er diese Geschich­ten erzäh­len konnte.

Da bewegte er sich. Nach einer Ewig­keit machte er einen Schritt vor­wärts. Er kämpfte sich aus der Schnee­wehe her­vor, die sich wie ein Kokon um ihn gelegt hatte und deren Kälte er schon nicht mehr gespürt hatte, bis er auf ihr stand.

Er sah sich um, blickte in den Him­mel vol­ler Sterne, deren sanf­tes Licht die Schnee­de­cke glit­zern ließ, und ver­suchte eine Rich­tung zu erken­nen. Obwohl es ihm nicht gelang, sich zu ori­en­tie­ren, machte er einen wei­te­ren Schritt. Und dann noch einen, siche­rer dies­mal. Und so beschleu­nigte er sein Tempo und rannte. Er lief und lief, durch­maß die zuge­schneite Welt mit lan­gen Schrit­ten, bis er stürzte und ein­schlief, geschützt von sei­ner Haut, die der Kälte gegen­über unemp­find­lich gewor­den war und von der Wärme der ver­lo­re­nen Sonne träumte.

Als er auf­wachte, stopfte er sich gegen das Gefühl von Hun­ger und Durst etwas Schnee in den Mund. Seine gefro­re­nen Zähne zer­mahl­ten das Eis zu einer unter­schieds­lo­sen Masse. Er stand auf und setzte wei­ter einen Schritt vor den ande­ren. Immer schnel­ler, bis er wie­der rannte und wie­der stürzte.

Er hatte kein Ziel vor Augen, wusste nur, dass er noch nicht ange­kom­men war und wei­ter­lau­fen musste.

Manch­mal sah er Grup­pen von Schnee­ver­weh­ten, die mal mit Spee­ren, mal mit Mess­ge­rä­ten durch die Welt zogen. Er hielt sich fern von ihnen, wech­selte die Rich­tung, sobald er sie erblickte. Denn auch bei ihnen würde er sein Ziel nicht fin­den. Also lief er weiter.

Wenn er ein­zelne Wan­de­rer sah, ver­lang­samte er sei­nen Schritt. Er trabte näher an sie heran, bis er erkannte, dass sie sich nicht zu ihm umdreh­ten, son­dern den Blick auf einen fer­nen Punkt gerich­tet hiel­ten. Sie hat­ten ihr eige­nes Ziel; es war nicht seines.

Seine Beine ver­fie­len dann wie­der in einen Lauf­schritt. Nur die Müdig­keit konnte ihn stop­pen und selbst dann lief er in sei­nem Inne­ren wei­ter. In sei­nen Träu­men raschelte das Gras unter sei­nen Füßen und war­mes Licht schien auf sei­nen Rücken. Sobald er auf­wachte, rap­pelte er sich auf und lief als hätte er nie auf­ge­hört, unklar, ob er dem Erin­nern ent­ge­gen oder dem Ver­ges­sen davonlief.

Er rannte ein wei­te­res Äon durch die schnee­be­deckte Nacht – bis er am Hori­zont einen ande­ren Jun­gen sah, der wie er anders war als die Men­schen, die er auf sei­nem Lauf bis­her gese­hen hatte.

In der Stadt der Bewah­rer lebte ein selt­sa­mer Junge. Man­che mein­ten, er wäre der jüngste der Zurück­ge­las­se­nen. Doch was zählte Alter in einer Gesell­schaft, in der keine Zeit mehr ver­ging? Das war aller­dings nicht der Grund, warum er auf­fiel. Das Pro­blem mit ihm war, dass er sich nicht anpasste. Die Bewah­rer ver­such­ten, ein Leben zu füh­ren, das sich nicht von dem unter­schied, wie es die Men­schen vor dem lan­gen Schnee­fall geführt hat­ten – soweit sie sich daran erin­nern konn­ten. Der Junge jedoch wan­derte durch die ver­schnei­ten Stra­ßen, ohne Ziel, ohne sich jemals eine Heim­statt zu suchen. Er über­nahm keine Auf­ga­ben, nicht die Wache an der repa­rier­ten Turm­uhr, die den Stadt­be­woh­nern in der ewi­gen Nacht das Gefühl von Zeit zurück­gab, und auch nicht das Ver­tei­len der Lebens­mit­tel. Dabei war es für die Bewah­rer uner­läss­lich, einer Arbeit nach­zu­ge­hen. Anders konnte man kein Teil ihrer Gesell­schaft sein.

Der selt­same Junge redete zu viel. Der Schnee über­deckte die meis­ten Geräu­sche. Des­we­gen beschränk­ten viele der Zurück­ge­las­se­nen ihr Spre­chen und rede­ten nur, wenn es nötig war in kur­zen Sät­zen vol­ler abge­hack­ter Worte. Doch der selt­same Junge hörte nicht auf, Fra­gen zu stel­len. Er las von ver­gan­ge­nen Zei­ten, von der Sonne. Er fragte immer wie­der, was pas­siert war und was sich geän­dert hatte.

Die Bewah­rer lie­ßen ihn lange Zeit in Ruhe. Sie sag­ten sich, dass er noch jung sei und dass er schon noch ver­ste­hen würde. Die meis­ten gin­gen ihm aus dem Weg. Man­che schau­ten ihn auch mit einem bösen Blick an oder schüt­tel­ten miss­bil­li­gend die Köpfe.

Doch der Junge hörte nicht auf, sich zu wun­dern und seine Fra­gen wur­den ihnen immer uner­träg­li­cher. Wenn die Bewah­rer ein­an­der tra­fen, bei der Lebens­mit­tel­aus­gabe oder wäh­rend ihrer Dienste, rede­ten sie von ihm. Mit einem gewis­sen Aus­druck in der Stimme, der mehr sagte als die Worte.

- „schaut‘n‘himml. stundlang.“

Die Bewah­rer rede­ten nur sel­ten, spra­chen nur leise mit einer vom Eis auf­ge­kratz­ten Stimme.

- sprach’n‘fremden.

- von bib‘thek?

- mhm.

- bes­ser. fragt‘e uns nich.

- trr! neu’ideen. kann‘ni brauch‘n.

- hm.

Ein­mal beglei­tete der Junge, die Bür­ger­meis­te­rin der Bewah­rer zu ihrem Zuhause. Sie schwie­gen die meiste Zeit, doch hin und wie­der stellte der Junge seine Fra­gen. Er erzählte, dass er von der Sonne gele­sen hatte. Konnte sich die Frau noch daran erin­nern? Konnte sie ihr Leuch­ten beschrei­ben? Warum war sie verschwunden?

In die­sem Moment wurde der Bür­ger­meis­te­rin klar, dass diese Wiss­be­gier in der Stadt störte und der Junge gehen musste. Immer­hin war man hier zusam­men­ge­kom­men, um in Ruhe wei­ter­zu­le­ben, um nicht über die Kälte nachzudenken.

Die Bür­ger­meis­te­rin ging zu den Bewoh­nern der Stadt und sprach mit ihnen über ihr Vorhaben.

junge?

fragte sie die Bewahrer.

redet. z’viel!

sag­ten einige.

verrückt’hier. wegen’m.

sag­ten andere.

ts’aussehen. passt’ni’her!

sag­ten noch andere.

Die Gründe waren der Bür­ger­meis­te­rin egal. Wich­tig war, dass sich alle einig waren.

Sie brach­ten den Jun­gen an die Grenze der Stadt. Mit einem lau­ten Kla­cken zwi­schen den bei­den Wor­ten, das die Welt ent­zwei rei­ßen könnte, stell­ten sie ihn vor die Wahl: schweig’n / geh’n. Er ent­schied, die Stadt der Bewah­rer zu verlassen.

Er wan­derte durch die Stadt der Hedo­nis­ten. Er sah die Lei­chen und beob­ach­tete die Feier, die schon viel Kraft ver­lo­ren hatte.

Er ver­ließ die Stadt und ging in die Wäl­der, wo er die Jäger, die Clans, die Ratio­na­lis­ten beob­ach­tete, doch zu viel Angst hatte, ihnen nahezukommen.

Er ging wei­ter, schob Fuß vor Fuß.

Als er noch in der Stadt der Bewah­rer gelebt hatte, hat­ten ihm die ein­sa­men Wan­de­rer vie­les erzählt. Von Wis­sen­schaft­lern, die erforsch­ten, was aus der Welt gewor­den war. Von Pries­tern, die eine Sonne anbe­te­ten, die vor so lan­ger Zeit ver­schwun­den war, dass kaum einer mit Sicher­heit sagen konnte, ob es sie wirk­lich gege­ben hatte. Er hatte gele­gent­lich daran gedacht, los­zu­zie­hen und diese Men­schen zu suchen, sie all die Fra­gen zu fra­gen, deren Ant­wor­ten er suchte. Doch nun hat­ten sich die Fra­gen ver­mehrt. Er wusste nicht mehr, wohin er gehen sollte, wie schnell oder lang­sam. Sollte er sich trei­ben las­sen oder auf ein Ziel zuge­hen? Hatte er noch ein Ziel, nun, wo er keine Ver­gan­gen­heit mehr hatte?

Also ging er ein­fach, immer gera­de­aus, bis er den Wald hin­ter sich gelas­sen hatte. Seine Schritte waren klein und bedäch­tig. Er beob­ach­tete, wie die Sterne am Him­mel ent­lang zogen. Manch­mal lächelte er, wenn er einen beson­ders hel­len Stern wie­der­ent­deckte, hob sei­nen Kopf, wie um einen Bekann­ten zu grü­ßen, den man aus der Ferne liebt. Er hörte bald auf, sein Lächeln zu zäh­len und ging wei­ter. Schritt für Schritt schleppte er sich durch den Schnee, der sich jahr­zehn­te­weit vor ihm aus­brei­tete, menschenleer.

Doch dann – sein Ster­nen­freund war gerade ver­schwun­den – erblickte er eine Gestalt am Hori­zont, die sich schnell näherte. Er über­legte noch, was er nun tun sollte, da stand die Gestalt vor ihm, einen Atem­zug ent­fernt. Sie schau­ten sich lange in die Augen. Sie wag­ten nicht zu blin­zeln, bis Eis­blu­men auf der Iris ihre Sicht trübte. Sie summ­ten kurz, denn sie woll­ten etwas sagen und konn­ten es nicht: Der eine konnte sich kaum noch an die Spra­che erin­nern; der andere konnte nicht ver­ges­sen, dass Reden einen Preis hatte.

Text: Thilo Sauer
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

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