Die Texterin, der Nerd und die Kreativität #BKmusikalisch

by Bücherstadt Kurier

Agnes stand vor dem Spie­gel im Flur. Gerade erst war sie nach Hause gekom­men, genervt von ihrer Che­fin und dem ewig glei­chen All­tag. Jetzt mus­terte sie sich kri­tisch. Unschein­bar, durch­schnitt­lich – lang­wei­lig! Dun­kel­blonde kurze Haare, eine kna­ben­hafte Figur – damit konnte man natür­lich weder punk­ten noch im Ram­pen­licht ste­hen. Kein Wun­der, dass sie ein so ereig­nis­lo­ses Dasein führte!

Ein lang­wei­li­ger Büro­job als Sach­be­ar­bei­te­rin im öffent­li­chen Dienst, kaum soziale Kon­takte in die­ser gro­ßen Stadt Ber­lin, in der sie sich nach zwei Jah­ren immer noch fremd fühlte. Ihr ein­zi­ger Freund war Mark, ihr Nach­bar, ein mit sei­nem Rech­ner ver­ban­del­ter Stu­ben­ho­cker, des­sen Lei­den­schaft die Musik war. Die Beto­nung lag also auf Freund­schaft, eine Bezie­hung war das nicht. Eine Art Bru­der­er­satz, ein rich­tig guter Kum­pel, zu dem sie gro­ßes Ver­trauen ent­wi­ckelt hatte. Ansons­ten gab es gele­gent­li­che Bis­tro- oder Café-Besu­che mit einer ihrer Kol­le­gin­nen, dar­über hin­aus war Agnes ziem­lich allein. Ein Mau­er­blüm­chen, ohne Gla­mour oder Aus­strah­lung. Ande­rer­seits war da diese Antriebs­lo­sig­keit. Nach Bay­ern in die Klein­stadt zurück­zu­ge­hen, aus der sie stammte, war keine Option ...

Einige Augen­bli­cke lang starrte sie ihr Spie­gel­bild an, dann hatte sie genug von ihrem Selbst­mit­leid und bewegte sich in Rich­tung der Küche ihrer Zwei­zim­mer­woh­nung. Sie schal­tete den Was­ser­ko­cher an, um sich einen Cap­puc­cino zu machen, und das Radio, um Geräusch­ku­lisse zu haben.

Doch was spiel­ten die da? „Ja mir san mit dem Radl da?!“ Schnell einen ande­ren Sen­der! Doch diese Melo­die ging ihr erst ein­mal nicht mehr aus dem Sinn, obwohl sie den Text nicht mochte. Agnes hatte das Lied vor Urzei­ten bei ihren Eltern das letzte Mal gehört, jetzt hatte sie die Melo­die in den Ohren, obwohl sie inzwi­schen auf der Skala einen Sen­der gefun­den hatte, der nicht sol­che Sachen spielte – weder Volks­mu­sik noch irgend­wel­che Schlager.

Der Klas­sik­sen­der, den sie durch das Dre­hen des Rades ein­ge­stellt hatte, war mehr nach ihrem Geschmack, da wurde auch nicht soviel dum­mes Zeug gequatscht, keine Stim­mungs­hits, nichts vom Bes­ten aus den Acht­zi­gern, Neun­zi­gern und von spä­ter ... Bes­ser etwas Instru­men­ta­les, das war auch gut, wenn man etwas lesen wollte, und half bestimmt, die­ses Radl-Lied aus dem Kopf zu kriegen ...

Agnes griff zu der Zeit­schrift, die sie gerade ihrer Hand­ta­sche ent­nom­men hatte, um sich noch mehr abzu­len­ken. Zer­streut blät­terte sie, wäh­rend sie war­tete, dass ihr Cap­puc­cino nicht mehr so heiß war. Da stieß sie auf einen Arti­kel über eine soge­nannte Domina, also eine Frau, die den Her­ren der Schöp­fung eine gewisse Befrie­di­gung ver­schaffte, indem sie sie beherrschte und ernied­rigte. Schwarze Stie­fel, Lack und Leder, eine Peit­sche hatte die also auch, wie auf einem der Schwarz­weiß-Fotos zu sehen war ... Agnes lächelte. Keine schlechte Inspi­ra­tion, dachte sie. Sie schrieb Kurz­ge­schich­ten, die nicht nur Mark gefie­len. Das eine oder andere Mal hatte sie schon eine ihrer Sto­ries unter­ge­bracht, im Netz oder einer Antho­lo­gie mit gerin­ger Auf­lage – Geld konnte man damit nicht verdienen.

Der Cap­puc­cino war nun etwas abge­kühlt und ließ sich trin­ken. Doch wie­der ertönte in Agnes Kopf diese Melo­die vom Radl, und dann ver­band sich die Melo­die mit einem Text. Sie sprang auf und schal­tete das Radio aus. Denn jetzt wollte sie diese Melo­die nicht mehr los­wer­den, im Gegen­teil! Statt vom Radl zu sin­gen, begann sie leise mit den Wor­ten: „Ich wäre so gerne eure Domina“. Stimmte das denn? Sie dachte an ihre Che­fin mit der Nei­gung zum Her­um­kom­man­die­ren, an ihr eige­nes unschein­ba­res Leben im Schat­ten. Wäre schon scharf, einen auf Domi­na­trix zu machen, den Spieß umzu­dre­hen ... Wei­tere Text­zei­len kamen ihr in den Sinn, wie auto­ma­tisch. So griff sie zu Papier und Blei­stift. „Eure Herr­sche­rin, eure Köni­gin, ein abso­lu­ter Haupt­ge­winn“, klang das nicht lächer­lich? Egal! „Ich wäre so gerne eure Domina, kniet nie­der, immer wie­der“. Einer­seits war ihr das pein­lich, ander­seits musste sie immer wie­der kichern.

Da klin­gelte ihr Mobil­te­le­fon. Mark! Der kam ihr gerade recht, der ein­zige, dem sie sich anver­traute, der ein­zige außer ihrer Mut­ter und ihrer älte­ren Schwes­ter in der baye­ri­schen Hei­mat, dem sie sich zu öff­nen pflegte. „Wie sieht’s aus?“, fragte Mark, „Lust, her­über­zu­kom­men?“ Sie pfleg­ten öfter zusam­men abzu­hän­gen, hör­ten manch­mal zusam­men Musik, tran­ken Tee, brauch­ten gar nicht viel Konversation.

„Klar!“, ant­wor­tete Agnes, denn sie war dar­auf aus, Marks Musik­lei­den­schaft in Anspruch zu nehmen.

Viel­leicht eine Minute spä­ter hatte sie bereits seine Woh­nungs­tür erreicht, die nur ange­lehnt war. In Marks Woh­nung sah es male­risch aus, über­all Unord­nung, aber tech­nisch war er auf dem neu­es­ten Stand. Ein typi­scher Stu­ben­ho­cker, nerdig von Natur aus, aber dank sei­ner tech­ni­schen Aus­stat­tung mit der hal­ben Welt vernetzt.

Gerne machte er am Com­pu­ter eigene Musik, ganz per­sön­li­che Klang­bil­der und Beats bil­de­ten den Hin­ter­grund für Satz­fet­zen und Geräu­sche, die er irgend­wel­chen Fern­seh­mit­schnit­ten ent­nahm – meis­tens ent­stand so irgend etwas Humo­ris­ti­sches. Er war frei­schaf­fend, haupt­säch­lich für eine ange­sagte Wer­be­agen­tur tätig, deren Boss ein Schul­freund von ihm war. Deren Wer­be­filme hübschte er akus­tisch mit der ent­spre­chen­den Musik auf. Das aber war nur für den Lebens­un­ter­halt, eigent­lich lebte er für die Kunst.

Wäh­rend Agnes mit­tel­groß und dabei ziem­lich mager war, neigte Mark dazu, rela­tiv fül­lig zu sein. Auch jetzt wie­der hatte er einen Tel­ler mit Kek­sen auf dem Schreib­tisch, an dem er wie üblich geses­sen hatte, um sei­ner Krea­ti­vi­tät freien Lauf zu lassen.

Er plat­zierte Agnes auf die freie Hälfte sei­ner Couch (die andere Seite war mit Zeit­schrif­ten belegt) und goss ihr etwas von dem grü­nen Tee ein, den er in einer Ther­mos­kanne parat hielt. Er setzte sich wie­der auf den Dreh­stuhl vor sei­nem Schreib­tisch mit den zwei Moni­to­ren, unter dem zwei PCs standen.

Zuerst saß Agnes ein paar Augen­bli­cke nur da, wäh­rend beide Tee tran­ken. Aber dann musste es ein­fach aus ihr her­aus. „Mir sind da gerade ein paar Zei­len durch den Kopf gegan­gen in Ver­bin­dung mit so einer uralten Sache, die du viel­leicht pein­lich fin­den wirst. Aber die alte Melo­die passt mei­ner Mei­nung nach gut. Ich halte die durch­aus für geeig­net, ist glaube ich auch schon für Fuß­ball­songs ver­wen­det wor­den. Hier, das ist der Text, den man zu der Mucke sin­gen könnte“, fügte sie hinzu und reichte ihm die Zei­len, die sie bis­her zu Papier gebracht hatte.

Mit zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen hörte Mark sich die Aus­füh­run­gen sei­ner Nach­ba­rin zu „Mir san mit dem Radl da“ an, grinste aber, nach­dem er den Zet­tel durch­ge­le­sen hatte. „Hört sich so bescheu­ert an, dass es schon wie­der gut ist“, kon­sta­tierte er. Bei jedem ande­ren wäre die emp­find­li­che Agnes belei­digt gewe­sen, doch Mark durfte das. „Also lau­tet der Refrain Ich wäre so gerne Eure Domina statt Mir san mit dem Radl da“, stellte er dann fest. „Das lässt sich machen, wobei ich über­rascht bin, sol­che abgrün­di­gen Sei­ten bei dir ken­nen­ler­nen zu müs­sen.“ (Agnes errö­tete ob die­ser Worte.) „Nun, ich nehme ein­fach die alte Melo­die, aber das ganze wird auf­ge­peppt durch einen schnel­le­ren Rhyth­mus, nicht gerade Techno, eher Euro­beat, eine Art Elek­tro­pop viel­leicht. Wir brau­chen aber eine Stimme, oder willst Du dich selbst ver­su­chen?“ Agnes schüt­telte ent­geis­tert den Kopf. „Ich bin kein Büh­nen­typ!“ „Klar, wir sind beide eher die­je­ni­gen, die im Hin­ter­grund wirken.“

Mark lächelte und über­raschte seine Freun­din dann mit den Wor­ten: „Nun, viel­leicht wäre Lucille die Rich­tige!“ Agnes schaute ihn ent­geis­tert an und riss die Augen auf. „Lucille!? Das ist doch nicht dein Ernst!“ Erst durch Mark war sie in Kon­takt mit der Ber­li­ner Szene gekom­men, wenn auch meis­tens nur vom Hören­sa­gen. Lucille war sowieso viel zu bekannt, um nicht auch Agnes geläu­fig zu sein. Die rot­haa­rige Sän­ge­rin war eine jener schil­lern­den Erschei­nun­gen, der man aller­dings sol­che Text­pas­sa­gen wie „Ich wäre so gerne eure Domina“ durch­aus zutrauen konnte. Lucille hatte genau den ver­ruch­ten Touch, den es brauchte, um sol­che Zei­len nicht nur zu sin­gen, son­dern auch zu ver­kör­pern. Lucille – das bedeu­tete Gla­mour und Aus­strah­lung ohne Ende. Sie war mitt­ler­weile mehr als ein Geheim­tipp! „Das ist doch nicht dein Ernst!“, brach es aus Agnes her­aus. Doch er lächelte nur, wor­auf­hin Agnes nach­denk­lich wurde, wusste sie doch, dass Mark durch­aus über Ver­bin­dun­gen ver­fügte, auch wenn er sel­ten sein unauf­ge­räum­tes Domi­zil ver­ließ. Allein durch die Wer­be­agen­tur hatte er genug Kon­takt zur Szene. Und so gin­gen die bei­den ans Werk ...

Ein hal­bes Jahr später

Der Vor­ent­scheid zum Song-Wett­be­werb war im vol­len Gang. Bis­her aber nichts Beson­de­res, Main­stream, Sän­ger-Song­wri­ter-Sachen, ein paar Hupfdoh­len, nicht gerade lang­wei­lig, aber es fehlte doch der abso­lute Knal­ler. Von Baden-Würt­tem­berg bis Meck-Pomm nichts Beson­de­res. Als letz­tes Bun­des­land war die Haupt­stadt dran.

Arm, aber sexy hatte ein frü­he­rer Bür­ger­meis­ter der Metro­pole die Stadt Ber­lin genannt. Nun, Sex-Appeal hatte zumin­dest die von dort stam­mende Lucille, als sie die Bühne betrat, wäh­rend sich Agnes und Mark im Hin­ter­grund des Saa­les atem­los anschau­ten, denn dort vorne wurde Wirk­lich­keit, was sie eigent­lich nur zu träu­men gewagt hat­ten. Die Sän­ge­rin trug schwarze Stie­fel und ein atem­be­rau­ben­des grü­nes Kleid, das her­vor­ra­gend zu ihren roten Haa­ren passte. Im Fern­se­hen kün­digte der Mode­ra­tor an: „Und hier ist Lucille mit Ich wäre so gerne eure Domina. Der Text stammt von Agnes Hin­ter­sto­ckerl, die Kom­po­si­tion von Mark Sabetzky.“ Eine ziem­lich alt­mo­di­sche Ansage, der Auf­tritt und die Musik waren dann aber auf der Höhe der Zeit. Und als schließ­lich die Stim­men­aus­zäh­lung des soge­nann­ten „Zuschau­er­vo­tings“ erfolgt war, sahen sich der nerdige Mark und die unschein­bare Agnes erneut ent­geis­tert an, als der Mode­ra­tor ver­kün­dete: „Unsere Stimme für Tel Aviv ist also gefun­den: Lucille!“

Stadt­be­su­cher Jür­gen Rösch-Brassovan
Illus­tra­tion: Satz­hü­te­rin Pia 
Ein Bei­trag zum Spe­cial #BKmu­si­ka­lisch. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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