Drüberleben

by Bücherstadt Kurier

„Ich möchte fei­er­lichst erklä­ren, daß ich schon meh­rere Male ein Insekt wer­den wollte. Doch nicht ein­mal dazu ist es gekom­men. Ich schwöre Ihnen, meine Herr­schaf­ten, daß zuviel Bewußt­sein – eine Krank­heit ist, eine rich­tige Krank­heit.“ (Dos­to­jew­skij – „Auf­zeich­nun­gen aus dem Kellerloch“)

Mit einem Zitat Dos­to­jew­skijs beginnt die Autorin ihren Debut­ro­man über Depres­sio­nen und den Weg diese zu über­win­den. Den rus­si­schen Lite­ra­ten voran zu stel­len scheint auf beein­dru­ckende Weise die Geschichte der Prot­ago­nis­tin Ida Schau­mann in einem Satz zusam­men­zu­fas­sen: Dos­to­jew­skijs namen­lo­ser Erzäh­ler fris­tet seit gerau­mer Zeit sein Dasein in einem Kel­ler­loch, um sich den Men­schen und der Gesell­schaft zu ent­zie­hen, gegen die er aggres­siv und zynisch wet­tert – Eine ana­ly­ti­sche Kri­tik am moder­nen Men­schen. Ida Schau­mann trägt eben­sol­che Cha­rak­ter­züge des rus­si­schen Erzäh­lers und stößt mit ihrem ste­ten Intel­lek­tua­li­sie­ren auf Unverständnis.

„Ich will unter mei­nem Bett ver­schwin­den, zwi­schen den Mons­tern lie­gen und mei­nen Kopf rhyth­misch auf den Boden häm­mern, damit das Geräusch die Gedan­ken übertönt.“

Ida Schau­mann, 24 Jahre, lei­det seit 6 Jah­ren unter Depres­sio­nen. Zum wie­der­hol­ten Male stellt sie sich ihrer Krank­heit und begibt sich in eine psych­ia­tri­sche Kli­nik. Mit­pa­ti­en­ten und The­ra­peu­ten wer­den zynisch kom­men­tiert, unsen­si­bel reagiert sie auf Annä­he­rungs­ver­su­che oder hüllt Gesprä­che in einen wüten­den Schwall von Iro­nie, um nie­man­den in Ihr Inners­tes bli­cken zu las­sen. Sie weiß um ihren Cha­rak­ter, reagiert an man­chen Tagen auf eine Weise, wie sie denkt, dass diese von ihr erwar­tet wird, mimt den Robo­ter, kre­iert an eini­gen Stel­len eine Farce, ver­mei­det den Kli­nik­all­tag mit Chan­cen auf Bes­se­rung zu „durch“leben, son­dern – wie es der Buch­ti­tel tref­fend for­mu­liert – zu „drüber“leben. Ida lebt nicht mit den ande­ren Men­schen, son­dern an ihnen vor­bei – oder sind es die Ande­ren? Auch zwi­schen den Zei­len lässt sich viel lesen.

„Gefühle, das sind diese Dau­er­gäste, die man nicht mehr los­wird, die sich breit­ma­chen in allen Räu­men des Ver­stan­des und Bot­schaf­ten wie Leucht­ra­ke­ten abfeu­ern, auf dass ja nie jemand sie übersehe.“

Vor gerau­mer Zeit ent­deckte ich Kath­rin Weß­lings (*1985 in Ahaus) Web­log “Drü­ber­le­ben“, ihr Schreib­stil begeis­terte mich. Die Autorin erlangte 2008 zahl­rei­che Siege als Poe­try Slam­me­rin, seit 2010 besteht ihr Blog, in wel­chem sie ihre eige­nen Depres­sio­nen ver­ar­bei­tete. Weß­lings Hand­schrift zeigt in ihrer Rhyth­mik deut­li­che Ein­flüsse des Poe­try Slams. Poe­ti­sche Wort­klei­der hül­len Abgründe in einen Früh­lings­duft, der kei­nes­wegs ver­wirrt, son­dern schwer zu fas­sen­den Inhalt mit einer Kraft berüh­rend über­setzt, ohne mit­lei­dig oder banal zu wer­den. Ein Buch über Depres­sio­nen und ihre The­ra­pie? Ein Wag­nis! Doch Kath­rin Weß­ling bleibt in all ihren Aus­drucks­for­men wun­der­bar authen­tisch – Nicht nur Betrof­fene fin­den sich an ver­schie­de­nen Stel­len ein klei­nes Stück wie­der, ohne Ida’s Geschichte auch nur annä­hernd mit­er­lebt zu haben – denn haben wir nicht alle schon ein­mal den Sinn des Lebens in Frage gestellt?

Nicole
urwort​.com

Drü­ber­le­ben, Kath­rin Weß­ling, Gold­mann Ver­lag, 2012

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