Du hast doch (k)einen Schatten!

by Worteweberin Annika

Jeder Mensch hat einen Schat­ten. Der folgt ihm auf Schritt und Tritt und hat erst mal nichts Unge­wöhn­li­ches an sich, denn nor­ma­ler­weise befolgt er die Gesetze der Phy­sik und ist ruhig und artig. Bis die Lite­ra­tur ins Spiel kommt, denn dann trei­ben Schat­ten aller­hand Scha­ber­nack und kön­nen sogar rich­tig unheim­lich sein. Worte­we­be­rin Annika hat her­aus­ge­fun­den, dass man sie in bestimm­ten Tex­ten als eine Varia­tion des Dop­pel­gän­ger­mo­tivs nach Sig­mund Freud betrach­ten kann.

Lite­ra­ri­sche Schatten

Schat­ten und Schat­ten­lo­sig­keit sind ins­be­son­dere seit der Roman­tik ein wich­ti­ges Motiv in der Lite­ra­tur. Erst­mals als Haupt­mo­tiv tauchte der Schat­ten in Adel­bert von Cha­mis­sos „Peter Schle­mi­hls wun­der­same Geschichte“ auf. In sei­nem Mär­chen „Der Schat­ten“ von 1847 griff Hans Chris­tian Ander­sen das Motiv wie­der auf. Gleich­zei­tig ent­wi­ckelte sich bei Ander­sen die Schat­ten­lo­sig­keit erst­mals zum Motiv des Dop­pel­gän­gers weiter.

Die Hand­lung des Mär­chens lässt sich ver­kürzt wie folgt zusam­men­fas­sen: Der Prot­ago­nist im Mär­chen, ein Gelehr­ter, reist in den Süden und schickt dort eines Abends sei­nen Schat­ten los, um das Haus gegen­über zu erkun­den, in dem er eine schöne Frau ver­mu­tet. Erst nach Jah­ren kehrt der Schat­ten zurück. Nun ist er ein Mann gewor­den. Sein alter Herr lebt inzwi­schen wie­der im Nor­den und arbei­tet dort als Schrift­stel­ler. Der Schat­ten bringt sei­nen ehe­ma­li­gen Herrn dazu, nun selbst Schat­ten zu wer­den. In Folge des­sen wird der Gelehrte krank. Er folgt sei­nem ehe­ma­li­gen Schat­ten schließ­lich trotz eini­gen Sträu­bens auf eine Reise, auf der der ehe­ma­lige Schat­ten eine Prin­zes­sin ken­nen­lernt. Weil der Gelehrte sei­nem Schat­ten bei sei­nen Plä­nen mit der Prin­zes­sin im Weg ist, wird er schließ­lich hingerichtet.

Einer oder zwei?

Was ist nun eigent­lich ein Dop­pel­gän­ger? Für Sig­mund Freud kann ein Dop­pel­gän­ger ver­schie­dene Aus­prä­gun­gen fin­den: Ent­we­der ist es jemand, der einer ande­ren Per­son sehr ähn­lich sieht oder mit den Gedan­ken des ande­ren ver­bun­den ist. Auch das Gewis­sen kann für Freud ein Dop­pel­gän­ger sein, das dann vom Ich einer Per­son getrennt auf­tritt. Eine andere Form des Dop­pel­gän­ger­tums ist für Freud die Bün­de­lung aller unver­wirk­lich­ten oder ver­dräng­ten Eigen­schaf­ten und Ent­schei­dun­gen einer Per­son, die von der Fan­ta­sie fest­ge­hal­ten werden.

Ein Dop­pel­gän­ger in bei­den die­ser Aus­prä­gun­gen kann einer­seits ein ande­rer Mensch sein, was zum Bei­spiel aus der Zwil­lings­li­te­ra­tur bekannt ist. Doch in der moder­nen For­schungs­li­te­ra­tur wird auch der Schat­ten oft als eine Form des Dop­pel­gän­ger­mo­tivs erkannt. Ein Schat­ten als Dop­pel­gän­ger wäre dann einer, der sich in sei­nen Taten und sei­nen Eigen­schaf­ten eigen­stän­dig macht. Der Schat­ten kann sich aber nicht ganz von sei­nem ehe­ma­li­gen Besit­zer lösen und wird dabei zu einer ver­selb­stän­dig­ten Form der Refle­xion über die eigene Person.

Schat­ten und Persönlichkeit

Begreift man die Per­sön­lich­keit als einen akzep­tier­ten, bewuss­ten Teil, und einen nicht akzep­tier­ten, oft auch nicht bewuss­ten Teil, kann aus einem Schat­ten durch Abspal­tung ein Dop­pel­gän­ger wer­den. In einer Iden­ti­täts­krise kann so ein schat­ten­haf­tes Gegen­stück zur eige­nen Per­son entstehen.

Dies lässt sich gut in Ander­sens Mär­chen „Der Schat­ten“ erken­nen: Der Prot­ago­nist sitzt in einer ent­schei­den­den Szene auf dem Bal­kon und beob­ach­tet das Fens­ter gegen­über, hin­ter dem er ein wun­der­schö­nes Mäd­chen ver­mu­tet. Er schickt nun sei­nen Schat­ten los, anstatt selbst Kon­takt zu ihr auf­zu­neh­men. Der Schat­ten ist hier lebens­fä­hi­ger als sein eigent­li­cher Besit­zer, der sich nicht traut zu han­deln. Spä­ter bestä­tigt sich das, als der Schat­ten die Prin­zes­sin anspricht und ihr Herz gewin­nen kann. In Lie­bes­din­gen ist der Schat­ten also über­le­gen, wäh­rend ihm sein Besit­zer in Sachen Bil­dung vor­aus ist. Hier kann man erken­nen, dass der Schat­ten als Dop­pel­gän­ger die nicht aus­ge­leb­ten Eigen­schaf­ten des Gelehr­ten ver­kör­pert, sowie anders­herum dem Schat­ten die wich­ti­gen Eigen­schaf­ten des Gelehr­ten fehlen.

Von Vam­pi­ren und Teufeln

Es erscheint dem Prot­ago­nis­ten des Mär­chens nicht beson­ders gefähr­lich, dass sein Schat­ten sich ver­selbst­stän­digt, viel­mehr wird der ehe­ma­lige Schat­ten spä­ter selbst zur Gefahr. Das Feh­len eines Schat­tens ken­nen wir heute auch als Zei­chen des Vam­pi­ris­mus, und auch in die­sem Zusam­men­hang erscheint es uns unheim­lich – ebenso wie auch ein Dop­pel­gän­ger. Genauso wer­den für gewöhn­lich auch der Teu­fel, Gespens­ter und Dämo­nen schat­ten­los dar­ge­stellt – das könnte daran lie­gen, dass sie vom Men­schen geschaf­fen wur­den und dem­entspre­chend schon selbst Schat­ten sind, also Pro­jek­tio­nen unaus­ge­leb­ter Eigen­schaf­ten und Wün­sche, die in die­sen Fäl­len wohl typi­scher­weise ins Grau­same ten­die­ren und auf bestimmte Figu­ren aus­ge­la­gert werden.

Eine Ver­bin­dung wird außer­dem zwi­schen Schat­ten und Seele bezie­hungs­weise Leben her­ge­stellt: Wenn, wie oben beschrie­ben, der Schat­ten eine Pro­jek­ti­ons­flä­che der Per­sön­lich­keit ist, muss das Feh­len eines Schat­tens dar­auf hin­deu­ten, dass ein Mensch see­len­los gewor­den ist, zum Bei­spiel weil er tot ist oder dem Tod zumin­dest nahe. Bei allen oben genann­ten Gestal­ten (Teu­fel, Dämon, Gespenst und Vam­pir) ist genau das der Fall. Das könnte auch erklä­ren, warum dem Herrn in „Der Schat­ten“ ein neuer Schat­ten wächst, nach­dem sein ers­ter sich selbst­stän­dig gemacht hat: Er hat noch eine Seele und Wün­sche (die er wahr­schein­lich wei­ter­hin nicht aus­lebt) und braucht dem­entspre­chend auch einen Schatten.

Der Schat­ten. Hans Chris­tian Andersen.
In: Mär­chen und Geschich­ten. Reclam. 2012.

Ein Fund aus der Todes­stadt.

Zum Wei­ter­le­sen:

  • Gerald Bär: Das Motiv des Dop­pel­gän­gers als Spal­tungs­phan­ta­sie in der Lite­ra­tur und im deut­schen Stumm­film. Ams­ter­dam u.a.: Rod­opi 2005.
  • Agnes Der­ja­n­ecz: Das Motiv des Dop­pel­gän­gers in der deut­schen Roman­tik und im rus­si­schen Rea­lis­mus. E.T.A. Hoff­manm, Cha­misso, Dos­to­jew­skij. In: Diplo­mica Band 7. Hrsg. von Björn Bedey. Mar­burg: Tec­tum Ver­lag 2003.
  • Wer­ner A. Dis­ler: Ich, Selbst, innere und äußere Objekte. Lehr­buch der ana­ly­tisch-selbst­psy­cho­lo­gi­schen Ima­gi­na­ti­ons-The­ra­pie. Bd. 1: Theo­rie und Tech­nik. Erwei­terte Neu­auf­lage. Ber­lin: Pro BUSINESS 2015.
  • Sig­mund Freud: Das Unheim­li­che. Bre­men: dear­books 2013.
  • Leon­hard Schle­gel: Grund­riß der Tie­fen­psy­cho­lo­gie. Bd. 4. Die Pola­ri­tät der Psy­che und ihre Inte­gra­tion. Eine kri­ti­sche Dar­stel­lung von C.G.Jung. Mün­chen: Francke 1973.
  • Andrew Web­ber: The Dop­pel­gän­ger. Dou­ble Visi­ons in Ger­man Lite­ra­ture. Oxford u.a.: Cal­en­dron Press 1996.
  • Gero von Wil­pert: Der ver­lo­rene Schat­ten. Vari­an­ten eines lite­ra­ri­schen Motivs. Stutt­gart: Alfred Krö­ner Ver­lag 1978.

Illus­tra­tio­nen: Buch­stap­le­rin Maike

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2 comments

Aaron 22. Oktober 2017 - 0:29

Wirk­lich lesens­wert und interessant!
Schat­ten an sich haben ja auch etwas kör­per­lo­ses und ver­zerr­tes an sich, wie man bei Schat­ten­spie­len auch in der auf­kom­men­den Zeit des Ker­zen­scheins beob­ach­ten kann. Ein Thema, das auch gern in aktu­el­len Bil­der­bü­chern und Gra­phic Novels ein­ge­bracht wird. Eine kleine Emp­feh­lung: „Drei Schat­ten“, eine Gra­phic Novel, in der auch die Todes­nähe les­bar ist.

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Zur letzten Ruhe – Ein literarischer Friedhofsrundgang (Teil II) 28. Oktober 2017 - 14:23

[…] dar­un­ter „Die klei­ne Meer­jung­frau“, „Des Kai­sers neue Klei­der“ oder „Der Schat­ten“. Au­ßer­dem liegt hier der Phi­lo­soph Sø­ren Kier­ke­gaard („Der Be­griff Angst“ […]

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