Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma

by Zeichensetzerin Alexa

„Durch den Schnee“ ist der erste von vier Bän­den der „Erzäh­lun­gen aus Kolyma“, her­aus­ge­ge­ben von Fran­ziska Thun-Hohen­stein. Scha­l­a­mow beschreibt darin das Leben im Arbeits­la­ger und in Gefan­gen­schaft. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

Wer große Emo­tio­nen sucht, wird hier nicht fün­dig. Sehr nüch­tern und klar wählt der Autor seine Worte, beschränkt sich auf Bege­ben­hei­ten und Aus­sa­gen. Ein Stil, der sich aus sei­nen 46 vor­ge­stell­ten Erkennt­nis­sen ergibt: „… dass der Schrift­stel­ler ein Aus­län­der sein muss in den Fra­gen, über die er schreibt. Wenn er das Mate­rial gut kennt, wird er so schrei­ben, dass ihn nie­mand versteht.“

Man ver­steht Scha­l­a­mow; und auch wenn er nicht jede Grau­sam­keit beschreibt, so kann man sich diese doch vor­stel­len. Es ist das Unaus­ge­spro­chene und doch Offen­sicht­li­che, das einen erschüt­tert. Seine Erzäh­lun­gen schei­nen Türen zu öff­nen und Gedan­ken anzu­sto­ßen. Geschich­ten, die einen dazu ver­an­las­sen, stun­den­lang am Küchen­tisch zu sit­zen und über den Sinn des Lebens nachzudenken.

Lebens­sinn? So etwas gäbe es nicht, meint Scha­l­a­mow. Wir leben aus dem glei­chen Grund wie ein Stein, ein Baum oder ein Tier – aus Über­le­bens­in­stinkt. Und die­ser ist es, der ihn daran hin­dert, Selbst­mord zu bege­hen. Dabei hätte er allen Grund dazu gehabt, denn das Leben in Gefan­gen­schaft ist kein ech­tes Leben mehr: Bei minus 50 Grad erfrie­ren nicht nur die Kör­per­teile, son­dern auch die Seele, der Hun­ger raubt einem die Kraft, die Kraft­lo­sig­keit ver­hin­dert das Auf­trei­ben von Brenn­holz – ein Teufelskreislauf.

„Es gibt Leute, die ewig alles wis­sen und alles erra­ten. Es gibt auch sol­che, die in allem das Beste sehen wol­len, und ihr san­gui­ni­sches Tem­pe­ra­ment fin­det in der schwie­rigs­ten Lage immer eine For­mel des Ein­ver­ständ­nis­ses mit dem Leben. Für andere dage­gen ent­wi­ckeln sich die Ereig­nisse immer zum Schlech­te­ren, und auf jede Ver­bes­se­rung reagie­ren sie skep­tisch, wie auf ein Ver­säum­nis des Schick­sals. Und die­ser Unter­schied in den Ein­stel­lun­gen hat wenig mit der per­sön­li­chen Erfah­rung zu tun: er ist sozu­sa­gen in der Kind­heit gege­ben, fürs ganze Leben…“

Die Arbeit im Lager ist hart. Viele ver­su­chen, Krank­heit zu simu­lie­ren, um krank­ge­schrie­ben zu wer­den und dadurch irgend­wie zu über­le­ben. Andere ver­su­chen zu flie­hen, wer­den erwischt und erschos­sen. Und wie­der andere ster­ben vor Kälte und Hun­ger. Der ein­zige Trost sind Bekannt­schaf­ten oder Freund­schaf­ten, zumin­dest so lange, bis der andere fort­ge­bracht wird. Dann blei­ben einem nur noch Gedan­ken. In sei­nen Erzäh­lun­gen schreibt Scha­l­a­mow über Natur und Dich­tung, kleine Aus­flüge in die Welt außer­halb der Arbeits­la­ger. Zwei Gedichte aus den bis­lang unver­öf­fent­lich­ten Koly­maer Hef­ten kann man am Ende des Hör­buchs hören, vor­ge­tra­gen von Scha­l­a­mow selbst.

Die Erzäh­lun­gen wer­den von Hanns Zisch­ler gele­sen. Mit sei­ner Stimme fängt er nicht nur die Atmo­sphäre ein, son­dern schafft auch den Spa­gat zwi­schen erns­ter Erzäh­lung und poe­tisch-phi­lo­so­phi­scher Gedan­ken. Die Wahl des Spre­chers hätte hier nicht tref­fen­der sein können.

War­lam Scha­l­a­mow wurde 1907 im nord­rus­si­schen Wologda gebo­ren. 1924 ging er nach Mos­kau, um dort „sowje­ti­sches Recht“ zu stu­die­ren. Fünf Jahre spä­ter ver­ur­teilte man ihn wegen „kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­rer Agi­ta­tion“ zu Lager­haft im Ural. Als er nach Mos­kau zurück­kehrte, folgte die Depor­tie­rung in die Kolyma-Region, wo zu Zei­ten des Sta­li­nis­mus Berg­werke und Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger errich­tet wur­den, in denen Mil­lio­nen von Men­schen star­ben. In Gefan­gen­schaft begann er heim­lich Erzäh­lun­gen zu ver­fas­sen, die er nach sei­ner Frei­las­sung 1956 wei­ter­schrieb und an denen er zwan­zig Jahre lang arbei­tete. Erst 1989 erschie­nen seine Werke in Russ­land, sie­ben Jahre nach sei­nem Tod.

Durch den Schnee: Erzäh­lun­gen aus Kolyma 1. War­lam Scha­l­a­mow. Über­set­zung: Gabriele Leu­pold. Spre­cher: Hanns Zisch­ler. der Hör­ver­lag. 2010. 

Ein Bei­trag zum Lese­pro­jekt “Rus­si­sche Literatur”.

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0 comment

sirpamononen 8. Februar 2015 - 22:08

ein ein­drück­li­ches buch, das unter die haut ging. seine worte so ruhig und zurückhaltend...hat tief weh getan.

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Bücherstadt Kurier 9. Februar 2015 - 17:49

Ja, eine sol­che Geschichte muss man erst ein­mal ver­dauen... (Alexa)

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sirpamononen 9. Februar 2015 - 18:17

ganz genau, liebe alexa. ist schon eine weile her, jedoch die erschüt­te­rung ver­geht nicht so schnell...

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