Ein Abenteuer aus dem Versandhauskatalog

by Worteweberin Annika

Wie man mit drei Dol­lar reich wird? In Davide Moro­si­no­t­tos Roman „Die Mis­sis­sippi-Bande” kann man es erfah­ren. Worte­we­be­rin Annika ist mit auf eine aben­teu­er­li­che Reise durch Ame­rika gekommen.

1904 im Bayou in Loui­siana: Julie, Tit, Te Trois und Eddie fischen eine Blech­büchse aus dem Was­ser – darin: drei ganze Dol­lar! Was man damit alles anstel­len kann… Aus dem Ver­sand­haus­ka­ta­log der Firma Wal­ker & Dawn bestel­len die Kin­der kur­zer­hand einen Poli­zei­re­vol­ver. Doch als der Kar­ton end­lich ankommt, liegt darin nicht Best.-Nr. 61R510 son­dern eine kaputte Uhr, mit der das Aben­teuer sei­nen Lauf nimmt… Wild ent­schlos­sen bricht die Mis­sis­sippi-Bande auf nach Chi­cago, um sich eine Beloh­nung für die Uhr zu sichern. Doch unter­wegs, aber auch am Ziel in der gro­ßen Stadt, lau­ern Gefahren.

Der mutige, fast toll­kühne Te Trois erzählt den ers­ten Teil der Geschichte um die Mis­sis­sippi-Bande. Dabei ver­has­pelt er sich manch­mal oder ver­liert den Faden. In Te Trois‘ Teil spielt die Geschichte im Bayou, einem Mis­sis­sippi-Delta. Mit Beginn des nächs­ten Teils, der die Reise mit dem Schiff und dem Zug nach Chi­cago schil­dert, wech­selt auch der Erzäh­ler, nun ist es Eddie, der über die Ereig­nisse berich­tet. Eddie, der Scha­mane, der von Te Trois nicht immer ganz für voll genom­men wird, ist deut­lich vor­sich­ti­ger und nach­denk­li­cher und hat einen ganz ande­ren Blick auf die Geschehnisse.

„‚Mit jeder Reise wird dein Gepäck schwe­rer‘, hatte Joe immer gesagt. Eine schwere Tasche vol­ler Geheim­nisse, Pis­to­len, Ängste und Erin­ne­run­gen ver­gan­ge­ner Tage. Es war nicht wirk­lich das, was ich mir gewünscht hatte, aber ich hatte keine Wahl gehabt. Die hat nie­mand.“ (S. 164)

Wäh­rend der Reise lernt Eddie, auf seine Fähig­kei­ten zu ver­trauen und gewinnt an Selbst­be­wusst­sein, so dass bald sagen kann: „Mir kam es vor, als hätte ich mein bis­he­ri­ges Leben auf Rei­sen ver­bracht, und ich fühlte mich wesent­lich älter als vor einer Woche, als ich noch zu Hause bei mei­nen Eltern gewohnt hatte.“ (S. 189)

Eine kaputte Uhr und ein Erbe

Durch die wech­seln­den Erzäh­ler liest sich Moro­si­no­t­tos Roman sehr abwechs­lungs­reich und auch die dritte Erzäh­le­rin, Julie, hat eine ganz eigene Stimme, mit der sie die sich über­schla­gen­den Ereig­nisse in Chi­cago schil­dert: Zuerst wer­den die Kin­der fest­ge­nom­men, Julie lan­det in einer Bes­se­rungs­an­stalt, wo die Insas­sin­nen schreck­lich behan­delt wer­den und hart arbei­ten müs­sen. Bei der Arbeit kann Julie aller­dings eini­ges her­aus­fin­den: Miss Dawn, die Mit­in­ha­be­rin des Ver­sand­hau­ses, wurde näm­lich vor eini­gen Jah­ren ermor­det und wahr­schein­lich gehörte ihr die kaputte Uhr. Als die Kin­der, schließ­lich befreit, die Uhr zum ande­ren Fir­men­in­ha­ber Mis­ter Wal­ker brin­gen, zeigt die­ser sich nicht gerade von sei­ner bes­ten Seite. Da muss mehr dahin­ter­ste­cken, schlie­ßen die vier und kom­men bald dem Erbe von Miss Dawn auf die Spur.

Sicht­bare und unsicht­bare Spuren

Julie, von Te Trois lie­be­voll Joju genannt, und ihr meist stum­mer Bru­der Tit sind zwei beson­ders berüh­rende Cha­rak­tere: Ihre Mut­ter arbei­tet als Pro­sti­tu­ierte. Tit und Jolie haben unter­schied­li­che Väter, Tit ist dun­kel­häu­tig. Im Ort im Bayou wird die ganze Fami­lie abschät­zig behan­delt, und auch wenn Te Trois selbst aus kei­ner wohl­ha­ben­den Fami­lie stammt, ver­bie­tet seine Mut­ter ihm den Umgang mit Julie. Doch auch zu Hause ergeht es dem Mäd­chen nicht gut:

„Ich wusste nicht, ob an dem blauen Fleck Julies Mut­ter schuld war oder aber jemand ande­rer, viel­leicht einer der vie­len Män­ner, die Julies Mut­ter in der Hütte hin­ter der Plan­tage hin und wie­der besuch­ten. Auf jeden Fall, dachte ich, ist es bes­ser keine Fra­gen zu stel­len und den Mund zu hal­ten. Denn es gibt Schläge, die sicht­bare Spu­ren hin­ter­las­sen, und andere Schläge, die unsicht­bare Spu­ren hin­ter­las­sen, und gewöhn­lich sind es Letz­tere, die stär­ker weh­tun.“ (S. 33)

Auf der Reise schließ­lich wird vor allem Tit von vie­len Men­schen her­ab­las­send behan­delt. Auch wenn den Kin­dern das einen Vor­teil bringt, denn als dun­kel­häu­ti­ger „Die­ner“ darf Tit ermä­ßigt an Bord der Loui­siana Story gehen – nicht ganz unprak­tisch, wenn man mit wenig Geld reist. Trotz­dem kommt durch die bei­den Figu­ren ein sehr erns­ter Unter­ton mit in die Geschichte hin­ein, der sich in Julies Teil noch ver­stärkt. Sie schil­dert, wie sie eine Mauer um sich herum errich­tet, um ihre Gefühle nicht zu zei­gen, und berich­tet ihren Freun­den des­we­gen auch nicht von den schreck­li­chen Gescheh­nis­sen in der Chi­ca­goer Besserungsanstalt.

Die Erfin­dung des Hotdogs

Auch wenn das Ende der Geschichte eben­falls zumin­dest zwei­schnei­dig erscheint, hat „Die Mis­sis­sippi-Bande“ auch lus­tige Ele­mente. En Pas­sant erfin­det zum Bei­spiel Eddie in Saint Louis den Hotdog:

„Brot und heiße Würst­chen, dachte ich. Und viel­leicht noch einen Sprit­zer Senf. Ich war mir sicher, diese Idee würde eine Zukunft haben.“ (S. 188)

Und auch der erste Teil, aus Te Trois Per­spek­tive geschil­dert, ist haupt­säch­lich lus­tig. Hinzu kommt, dass die erns­ten Ele­mente sich mit den aben­teu­er­li­chen Pas­sa­gen abwech­seln, in denen Rät­sel gelöst, von Zügen gesprun­gen und Ver­fol­ger abge­schüt­telt wer­den. So fin­det der Roman eine gute Balance zwi­schen erns­ten und unter­halt­sa­men Tönen.

Land­kar­ten, Zei­tungs­aus­schnitte, Katalogseiten

„Die Mis­sis­sippi-Bande“ ist wun­der­bar auf­wän­dig gestal­tet: Jedes Kapi­tel wird von einer Seite aus dem Ver­sand­haus­ka­ta­log (ers­ter Teil), einer Land­karte (zwei­ter Teil) oder einem Zei­t­ung­aus­schnitt (drit­ter Teil) ein­ge­lei­tet, die sich auf die Hand­lung bezie­hen und die Lese­rin­nen und Leser direkt mit ins Jahr 1904 neh­men. Auch die Jury des Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur Prei­ses hebt den „ganz beson­de­ren Charme“ her­vor, der durch die Gestal­tung entsteht.

Doch nicht nur, dass das Buch ein ech­ter Hin­gu­cker ist, die „his­to­ri­schen Doku­mente“ erfül­len auch in der Geschichte wich­tige Funk­tio­nen: Die Arti­kel über den Mord an Miss Dawn laden zum Mit­rät­seln ein, noch bevor es in der Roman­hand­lung über­haupt soweit ist. Die Land­kar­ten mit kur­zen Infor­ma­ti­ons­tex­ten hel­fen bei der Ori­en­tie­rung und lie­fern eini­ges an Hin­ter­grund­wis­sen. Und spä­tes­tens das Bild vor dem letz­ten Kapi­tel, das von Tit erzählt wird, spannt einen wun­der­ba­ren Bogen und wirft durch das Durch­bre­chen der Erzähl­ebene gleich­zei­tig Fra­gen auf. Mehr sei hier dazu aber nicht verraten.

Nicht nur durch die letzte Wen­dung, auch durch die von Teil zu Teil wech­selnde Erzäh­ler­fi­gur kommt Moro­si­no­t­tos Roman sehr ambi­tio­niert daher, ohne junge Lese­rin­nen und Leser ab 10 Jah­ren aber damit zu über­for­dern, immer­hin bleibt alles auch lus­tig und spie­le­risch. Die Nomi­nie­rung für den Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur Preis 2018 recht­fer­tigt das, in Kom­bi­na­tion natür­lich mit der span­nen­den Geschichte mit erns­tem Unter­ton, allemal.

Die Mis­sis­sippi-Bande. Wie wir mit drei Dol­lar reich wur­den. Davide Moro­si­no­tto. Aus dem Ita­lie­ni­schen von Cor­ne­lia Panzac­chi. Gestal­tung: Ste­fano Moro. Thie­ne­mann. 2017.

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1 comment

Liebes Tagebuch… – Bücherstadt Kurier 17. Mai 2019 - 20:47

[…] Thema haben sich da aus­ge­wirkt. Da ich aber ein gro­ßer Fan von Davide Moro­si­not­tos „Die Mississippi-Bande“ bin, wollte ich auch sei­nen neuen Roman unbe­dingt lesen. Ein Glück, denn „Ver­lo­ren in […]

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