Ein Plädoyer für Individualität Deutscher Buchpreis 2015

by Erzähldetektivin Annette

„Alles geht ein­mal vor­bei, auch ein Werk, so tief­grün­dig, emo­tio­nal, ergrei­fend, ehr­lich und ja, auch anstren­gend, wie ‚Die Erfin­dung der Roten Armee Frak­tion durch einen manisch-depres­si­ven Teen­ager im Som­mer 1969‘ von Frank Wit­zel“ – So das Fazit unmit­tel­bar nach die­sem außer­ge­wöhn­li­chen Lese­er­leb­nis. Erzähl­de­tek­ti­vin Annette wurde von dem monu­men­ta­len Gesamt­kunst­werk auf eine tiefe, innere wie äußere Reise mit­ge­nom­men. Für sie hat Wit­zels Werk das Poten­tial, ein ech­ter Klas­si­ker zu werden.

Die Erfindung der Roten Armee FraktionDie Beat­les, Rous­seau, Andreas Baa­der, der Exis­ten­zia­lis­mus, Psy­cho­ana­lyse oder die Frage nach Gott – sie alle bil­den Aus­gangs­punkte für die ver­schie­dens­ten Gedan­ken­gänge in Frank Wit­zel neu­es­tem Werk. Für sei­nen Roman erhielt er 2015 den deut­schen Buch­preis. Seine Leser­schaft braucht eine Weile, um in die­ses 800 Sei­ten starke Opus hineinzukommen.

Wit­zel ver­webt moderne Ver­schwö­rungs­theo­rien mit Kapi­ta­lis­mus­kri­tik. Er ver­mischt Kri­mi­nal­ge­schich­ten mit gro­tes­ken Ereig­nis­sen. Und er führt phi­lo­so­phi­sche Dis­kurse mit unzäh­li­gen Anspie­lun­gen auf Pop­kul­tur und Lite­ra­tur zusam­men. Seine Erzähl­art ist sehr per­sön­lich und hält nicht nur der Gesell­schaft einen Spie­gel vor, son­dern auch dem Autor und sei­ner Leser­schaft. In vie­len Gedan­ken­gän­gen des Erzäh­lers wer­den sich auch die Leser wie­der­fin­den können.

„Mit­hilfe von drei ange­bis­se­nen Pfir­si­chen gelingt der Trans­fer hin zum Symbolischen“

Dabei ver­schwimmt die Grenze zwi­schen Rea­li­tät und Fan­ta­sie. Es bleibt bis zum Schluss unklar, was wirk­lich pas­siert und was nur im Kopf des Erzäh­lers statt­fin­det. Ein Mann wird – wohl von einem Poli­zis­ten, viel­leicht ist es aber auch sein Arzt – zu sei­ner Teil­nahme an den Ham­bur­ger RAF-Tagen und sei­ner Rolle bei der Grün­dung die­ser ter­ro­ris­ti­schen Ver­ei­ni­gung befragt. Der Befragte leug­net jed­wede Ver­bin­dung, hat jedoch aller­hand andere Anek­do­ten zu berich­ten. Und so wech­selt die Erzäh­lung zwi­schen unter­schied­li­chen Jahr­zehn­ten, springt von einem Prot­ago­nis­ten zum nächs­ten und schil­dert mal aus der Ich-Per­spek­tive, mal aus Sicht einer drit­ten Person.

Doch kehrt Wit­zel stets zu sei­ner Haupt­fi­gur und ihrem inne­ren Kampf um die Wahr­heits­ho­heit zurück. Es fühlt sich so an, als sei man als Leser im Kopf des Erzäh­lers, als würde man selbst zu die­sem wer­den. In einer schein­bar end­lo­sen Anein­an­der­rei­hung von Gedan­ken, die nicht immer offen­sicht­lich etwas mit­ein­an­der zu tun haben, die abrupt die Rich­tung ändern oder gleich voll­stän­dig abbre­chen, taucht man ein in eine Welt vol­ler phi­lo­so­phi­scher Fra­ge­stel­lun­gen, die Erzäh­ler wie Leser im Inners­ten berüh­ren. Wit­zel fin­det dafür einen so tref­fen­den Ton­fall, dass es nicht schwer fällt zu glau­ben, er sei mit all die­sen Zwei­feln und Unsi­cher­hei­ten nur allzu vertraut.

„Die Welt ist ein Laby­rinth und wir sind gefan­gen in einem Rhönrad“

Aus­ge­brei­tet wird eine ebenso tra­gi­sche wie span­nungs­ge­la­dene Lebens­ge­schichte, in deren Zen­trum ein hoch­sen­si­bler Mensch steht. Seit frü­hes­ter Kind­heit von dem Gefühl geplagt, die Dinge bis ins Kleinste ana­ly­sie­ren zu müs­sen und den­noch keine Ant­wor­ten fin­den zu kön­nen, scheint dem Jugend­li­chen ein Rück­zug in eine ver­meint­li­che Geis­tes­krank­heit, ein Der-Welt-ent­rückt-Sein, als ein­zi­ger Aus­weg. Von sei­nem Umfeld völ­lig miss­ver­stan­den und unfä­hig, dem eige­nen Leben selbst eine klare Rich­tung zu geben, drif­tet der Prot­ago­nist zwi­schen aus­ge­dach­ten und wah­ren Geschich­ten umher.

Dabei möchte Wit­zel keine Ant­wor­ten lie­fern oder das Rad neu erfin­den. Er tut auch nicht so, als seien die in sei­nem Werk gestell­ten Fra­gen nicht schon man­nig­fach bespro­chen wor­den. Gibt es Gott? Was bedeu­tet seine Exis­tenz (oder Nicht-Exis­tenz) für mein eige­nes Leben? Wer bin ich? Wie muss ich sein, um in der Gesell­schaft funk­tio­nie­ren zu kön­nen? Bin ich krank, wenn ich mich nicht an die Gesell­schaft anpas­sen möchte? Hat die Gesell­schaft Recht? Gibt es die Gesell­schaft? Bereits zu Beginn stellt der Erzäh­ler, momen­tan Pati­ent in der Spe­zi­al­am­bu­lanz für Per­sön­lich­keits­stö­run­gen des Uni­ver­si­täts­kli­ni­kums Eppen­dorf, fest: „Und immer noch habe ich mit all die­sen ande­ren Fra­gen zu tun, die für all die ande­ren selbst­ver­ständ­lich und längst beant­wor­tet sind.“ Steht er sei­ner Gene­sung am Ende selbst im Weg?

„Natür­lich sind die Nazis an allem schuld“

Diese indi­vi­du­el­len und sehr pri­va­ten Belas­tun­gen fin­den vor dem Hin­ter­grund gan­zer Genera­ti­ons-Kon­flikte statt. So wird einer­seits das schwie­rige Ver­hält­nis der ers­ten Nach­kriegs­ge­nera­tion mit ihren Eltern, die den zwei­ten Welt­krieg mit­er­leb­ten, the­ma­ti­siert. Ande­rer­seits wird auch aus Sicht der Kriegs­ju­gend und ihren Schwie­rig­kei­ten mit den eige­nen Eltern erzählt. Die diver­sen Exkurse sind es, die sei­nen Roman so lesens­wert machen: Die Kri­tik an unse­rer heu­ti­gen Gesell­schaft, unse­rer Schnell­le­big­keit, unse­rer Tech­nik-Abhän­gig­keit und unse­rer Gleich­gül­tig­keit gegen­über ver­meint­lich beant­wor­te­ten oder über­hol­ten Fra­gen und Problemen.

Sehr gehalt­voll ist bei­spiels­weise ein Exkurs, der sich mit der Namens­ge­bung von Stra­ßen und Plät­zen nach dem zwei­ten Welt­krieg beschäf­tigt. Wieso darf so man­che nach Tätern benannte Straße ihren Namen behal­ten, wohin­ge­gen es kaum Orte gibt, die nach Opfern benannt wor­den sind. Wer­den sie damit nicht erneut Opfer der Geschichte? Gespickt wer­den die Pas­sa­gen mit unzäh­li­gen, teils offen­sicht­li­chen, teils sub­ti­len Anspie­lun­gen auf Musik, Lite­ra­tur, Film und Fern­se­hen, aber auch auf Geschichte und Poli­tik, Phi­lo­so­phie, Psy­cho­lo­gie, Natur- und Reli­gi­ons­wis­sen­schaf­ten. Der Autor scheint über ein immenses Wis­sen zu verfügen.

Ein Hoch auf die Einmaligkeit

„Die Erfin­dung der Roten Armee Frak­tion durch einen manisch-depres­si­ven Teen­ager im Som­mer 1969“ ist ein Plä­doyer für Indi­vi­dua­li­tät und die per­sön­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit den ganz eige­nen Fra­gen. Als Indi­vi­duum han­delt man nicht falsch oder unsin­nig, nur weil man kei­nen Kon­ven­tio­nen ent­spre­chen möchte. Frank Wit­zel lie­fert keine Weis­hei­ten oder gar Ant­wor­ten. Viel­mehr regt er zum Selbst­den­ken an und dazu, der Welt mit all ihren Fra­gen eine Chance zu geben. Von die­sem Buch kön­nen wir noch lange zehren.

Die Erfin­dung der Roten Armee Frak­tion durch einen manisch-depres­si­ven Teen­ager im Som­mer 1969. Frank Wit­zel. Mat­thes & Seitz Ber­lin. 2015.

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