Ein Wiener Spuk-Spaziergang (Teil 2) #Todesstadt

by Wortklauberin Erika

Manch­mal, wenn Wort­klau­be­rin Erika und Stadt­be­su­che­rin Annu, die von Beruf Frem­den­füh­re­rin ist, durch den Wie­ner Ers­ten Bezirk spa­zie­ren, lau­fen ihnen die absur­des­ten Gestal­ten über den Weg. Folgt ihnen für einen Spuk-Spa­zier­gang mit lite­ra­ri­schen Andeu­tun­gen durch das Wie­ner Stadtzentrum.

Über den Graben

Zurück über den Hel­den­platz und über den Michae­ler­platz hin­weg geht der Spa­zier­gang wei­ter über den Kohl­markt, wo sich ein „k. u. k.“-zertifiziertes Geschäft an das nächste drängt. Einen Blick wert ist die Gruft der Michael­er­kir­che, aber sie ist nichts für schwa­che Ner­ven. Seit Jahr­hun­der­ten wer­den dort die Lei­chen der Ver­stor­be­nen durch die eigen­tüm­li­che Kom­bi­na­tion aus Luft­feuch­tig­keit und kon­stan­ter Tem­pe­ra­tur mumi­fi­ziert. In der Michael­er­kir­che wur­den übri­gens in den 1950er Jah­ren auch Teile der Filme der „Sissi“-Trilogie mit Romy Schnei­der gedreht.

Wir spa­zie­ren aber wei­ter an den luxu­riö­sen Geschäf­ten vor­bei und kom­men auch am ers­ten Wie­ner Kaf­fee­rös­ter – dem Geschäft von Julius Meindl – vor­bei. Dort schla­gen wir den Weg nach rechts über den Gra­ben ein. Am Josephs­brun­nen, der Pest­säule und dem Leo­polds­brun­nen vor­bei führt uns unser Weg in Rich­tung Stephansdom.

Wem auf dem Weg die Pest­säule ins Auge fällt, der sollte sich einen Moment Zeit neh­men und sie genauer betrach­ten. Als im 17. Jahr­hun­dert die Pest in Öster­reich wütete, ver­sprach Kai­ser Leo­pold I. sich bei Gott zu bedan­ken, wenn die Seu­che bald wei­ter­zöge und mög­lichst viele das Unglück über­leb­ten. Blickt ganz nach oben, wo Kai­ser Leo­pold I. von der Drei­fal­tig­keit bewacht her­ab­schaut, und guckt euch sein Gesicht genauer an. Leo­pold litt an der soge­nann­ten Habs­bur­ger Unter­lippe, ein Ergeb­nis der engen Ver­wandt­schaf­ten inner­halb der Fami­lie. Sie wird geprägt von einer stark aus­ge­präg­ten Unter­lippe, die aus einer erb­li­chen Über­ent­wick­lung des Unter­kie­fers resul­tiert. Die Habs­bur­ger Unter­lippe spukt immer wie­der durch die Lite­ra­tur, nicht zuletzt in Ste­fan Zweigs his­to­ri­schem Roman „Magel­lan“.

Ein Eisen im Stock

Doch bevor wir in den Dom ein­tre­ten, machen wir noch einen Zwi­schen­stopp beim soge­nann­ten „Stock im Eisen“ auf dem Stock-im-Eisen-Platz, dort, wo sich Sin­ger­straße und Kärnt­ner­straße tref­fen. Der Stock im Eisen ist ein soge­nann­ter Nagel­baum, eine Spur des Mit­tel­al­ters, die sich bis heute erhal­ten hat: Es ist nicht ganz klar, warum Nägel in den Baum­stamm geschla­gen wur­den, doch man nimmt an, es habe sich hier­bei um soge­nannte Votiv­ga­ben gehan­delt. Nägel waren im Mit­tel­al­ter teuer, und Men­schen schlu­gen zum Dank für Hei­lung oder den Schutz vor Unfäl­len Nägel in Kreuze, um Gott für den Schutz zu danken.

Rund um den Baum liegt ein Eisen mit Vor­hän­ge­schloss, das der Sage nach vom Teu­fel selbst dort hin­ge­hängt wurde und nicht geöff­net wer­den kann. Das stimmt: Das Vor­hän­ge­schloss ist näm­lich eine Attrappe, die ver­mut­lich im 16. Jahr­hun­dert vom Besit­zer des Hau­ses, an dem der Stock im Eisen steht, ange­bracht wurde.

Vom Stock im Eisen blickt man direkt in die Sin­ger­straße hin­ein, in der sich auch das Deutsch­or­dens­haus befin­det, jenes Gebäude, aus dem Mozart mit einem Fuß­tritt zur Tür hin­aus beför­dert wurde. In diese Straße mün­det die Lili­en­gasse, ein soge­nann­tes „Armen­sün­der­gassl“: Ver­bre­cher wur­den im Mit­tel­al­ter vom Stadt­ge­fäng­nis über die Lili­en­gasse zur Hin­rich­tungs­stätte geführt. Ent­spre­chend viele Geis­ter wan­ken über diese Gasse: Immer wie­der sol­len wan­kende Gestal­ten auf­tau­chen, die leise ihr Leid beklagen.

Unter, in und auf dem „Steffl“

Wir been­den den Stadt­spa­zier­gang beim Ste­phans­dom, von den Wie­ner lie­be­voll „Steffl“ genannt. Das Wahr­zei­chen des Ers­ten Bezirks ist einen Besuch wert: Es loh­nen sich sowohl der Weg hin­ein als auch nach oben und unten. Über­all fin­den sich Sagen, Mythen und Mysterien!

Der Ste­phans­platz war ursprüng­lich der Stadt­fried­hof, der Dom selbst wurde auf römi­schen Grab­plat­ten errich­tet – im Por­tal der Kir­che fin­det man, wenn man genau hin­schaut, sogar eine ein­ge­mau­erte Grab­platte! Rechts vom Ein­gang sieht man gleich neben dem Tor eine Glas­ta­fel, hin­ter der der Code „O5“ vor Wind und Wet­ter geschützt wird. Öster­reich leis­tete den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Beset­zern damit Wider­stand: Eine der Grup­pen hatte das Geheim­zei­chen „O5“, wobei die Zahl fünf für den fünf­ten Buch­sta­ben im Alpha­bet stand: „OE – Österreich“.

Unter dem Ste­phans­platz lie­gen die Rui­nen einer Kir­che, die man nur über eine Fall­tür betre­ten konnte, genannt „Vir­gil-Kapelle“. Dane­ben, in den Kata­kom­ben, spa­ziert man über hohe Mau­ern und Gänge und kann sogar ein Pest­grab besich­ti­gen. In den Kata­kom­ben fin­den sich auch wei­tere Über­reste der Habs­bur­ger, vor denen es in Wien nur so wim­melt. Seit dem Mit­tel­al­ter wur­den die Ein­ge­weide der Habs­bur­ger hier in Urnen zur letz­ten Ruhe gebettet.

In der Gruft begeg­net uns außer­dem eine Tafel mit Inschrift: „An die­ser Stätte wurde des unsterb­li­chen W.A. Mozart Leich­nam am 6. Dez. 1891 ein­ge­seg­net“. Mozart wurde hier auf­ge­bahrt, um außer­halb der Stadt auf dem Fried­hof St. Marx bei­gesetzt zu wer­den. Ende des 19. Jahr­hun­derts war es üblich, Lei­chen außer­halb der Stadt zu begra­ben, um Seu­chen vor­zu­beu­gen. Um den Ver­bleib von Mozarts Leich­nam gibt es einige Geschich­ten, die immer wie­der auch ihren Weg in Lite­ra­tur und Film, zum Bei­spiel den Krimi „Mozarts letzte Arie“ von Matt Rees oder Folge 324 der „Simp­sons“ („Geschichts­stunde mit Marge“), fin­den. Es ist bis heute nicht klar, wel­ches Grab genau zu Mozart gehört, aber wir wis­sen immer­hin, wo er mehr oder weni­ger zu fin­den ist.

Es gibt in Wien meh­rere Aus­sichts­punkte neben den Glo­cken­tür­men des „Steffls“: Hier hat sich Wort­klau­be­rin Erika auf ein Hoch­haus geschlichen.

Teuf­li­scher Turmbau

Der Weg nach oben, auf den Glo­cken­turm – man kann beide besich­ti­gen – lohnt sich allein schon wegen des Pan­ora­ma­blicks über Wien. Für die Frage, warum ein Turm voll­endet ist und der andere nicht, gibt es übri­gens noch eine letzte, teuf­li­sche Erklärung.

Bau­meis­ter Bux­baum wollte sei­nen Meis­ter, der den ers­ten Turm erbaut hatte, ver­drän­gen und ver­sprach, inner­halb kür­zes­ter Zeit einen zwei­ten Turm zum Ste­phans­dom zu bauen. Doch die Bau­ar­bei­ten gin­gen nur lang­sam voran und als ihm eines Tages nach Mit­ter­nacht ein nach Schwe­fel rie­chen­der Herr erschien und einen zwie­lich­ti­gen Han­del anbot, zögerte er nicht, ein­zu­schla­gen. Die ein­zige Bedin­gung war, für die Zeit des Baus weder den Namen Got­tes, noch ande­rer Hei­li­ger in den Mund zu neh­men. Bux­mann, der ohne­hin nicht sehr reli­giös war, ver­sprach sich daran zu hal­ten. Ab dem Moment gin­gen die Bau­ar­bei­ten wie durch magi­sche Hand ange­trie­ben voran, und der Turm war fast vollendet.

Man sollte dazu erwäh­nen, dass Bux­mann jung und unge­stüm war, und wahn­sin­nig ver­liebt: in die Toch­ter sei­nes Meis­ters, Maria. Kurz vor der Voll­endung des Turms stand er auf dem Gerüst, erblickte die Ange­be­tete und rief laut ihren Namen – und ver­gaß, dass sie sich ihren Namen mit einer katho­li­schen Hei­li­gen teilte. Kaum hatte der Name seine Lip­pen ver­las­sen, zün­gelte das Höl­len­feuer aus dem Nichts aus dem Boden und ver­schlang das Gerüst mit lau­tem Kra­chen: Bux­mann ver­schwand und wurde nicht wiedergesehen.

Wenn ihr die­sen Spa­zier­gang durch Wien unter­neh­men wollt, rech­net mit etwa 1,5 Stun­den. Wer aber noch mehr über die Geheim­nisse und das Ver­bor­gene von Wien erfah­ren möchte, kann auch Frem­den­füh­re­rin Annu Hasen­zagl auf einer ganz pri­va­ten Tour durch die Haupt­stadt Öster­reichs beglei­ten. Schreibt ihr eine E‑Mail an annu.hasenzagl[at]live.at mit dem Betreff „Stadt­spa­zier­gang“! In die­sem Sinne wün­schen Erika und Annu viel Freude beim Ent­de­cken. Wir emp­feh­len für die Gru­sel­stim­mung einen Wie­ner Herbst­abend abzu­war­ten. Viel Spaß!

Lite­ra­tur (1 & 2 Teil des Beitrags)

Erwähnte Romane, Erzäh­lun­gen, Gedichte, Thea­ter­stü­cke und Filme

  • 1865, 2015. 150 Jahre Wie­ner Ring­straße – Drei­zehn Betrach­tun­gen. Her­aus­ge­ge­ben von Wien­Tou­ris­mus. Metro­ver­lag. 2014.
  • Die Blut­grä­fin. Nacht­blut. Von Gra­fen­wald, Gothic Empire Records, Soul­food. Deutsch­land. 2006.
  • Die Sagen und Legen­den der Stadt Wien. Gus­tav Gugitz. Hol­li­nek. 1952.
  • Die schöns­ten Sagen aus Wien. Wolf­gang Mor­scher, Berit Mru­gal­ska. Hay­mon. 2010.
  • Die weisse Frau in der Hof­burg. Anton Lan­ger. Selbst­ver­lag. 1870.
  • Dra­cula. Bram Sto­ker. Über­setzt von Stasi Kull. Ana­conda. 2008.
  • Hel­den­platz. Tho­mas Bern­hard. Suhr­kamp. 1988.
  • Kapu­zi­ner­gruft. Joseph Roth. Dtv. 1978.
  • Laut und Luise. Ernst Jandl. Wal­ter Ver­lag. 1966.
  • Magel­lan: Der Mann und seine Tat. Ste­fan Zweig. Her­aus­ge­ge­ben von K. Beck. Fischer. 1983.
  • Mozarts letzte Arie. Matt Rees. Beck. 2012.
  • Sissi. Regie und Dreh­buch: Ernst Marischka. Romy Schnei­der, Karl­heinz Böhm, Magda Schnei­der. Erma-Film. Öster­reich. 1955. BK-FSK: ab 6 Jahren.
  • The Simp­sons: Geschichts­stunde mit Marge. Regie: Mike B. Ander­son. Dreh­buch: Brian Kel­ley. Dan Cas­tel­la­neta (Nor­bert Gast­ell), Julie Kav­ner (Eli­sa­beth Volk­mann), Nancy Cart­wright (San­dra Schwit­tau). FOX Net­work. USA. 2004. BK-FSK: ab 6 Jahren.
  • Win­ter­bergs letzte Reise. Jaros­lav Rudiš. Luch­ter­hand. 2019.

Zum Nach­le­sen

  • 111 Wie­ner Orte und ihre Legen­den: Rei­se­füh­rer. Sophie Reyer, Johanna Uhr­mann. Emons. 2019.
    Die Habs­bur­ger und das Über­sinn­li­che: Die weiße Frau in der Hof­burg und andere Phä­no­mene. Gabriele Praschl-Bich­ler. Amal­thea. 2003.
  • Die ver­sun­kene Kiste. Der Bau der Wie­ner Hof­oper am Ring. Julia The­resa Friehs. Habs​bur​ger​.net.
  • Dunkle Geschich­ten aus dem alten Wien. Abgrün­di­ges & Mys­te­riö­ses. Bar­bara Wolf­lings­eder. Pich­ler. 2012.
  • Habs­burgs schräge Vögel. Extra­va­gan­zen und Allü­ren des Herr­scher­hau­ses. Gabriele Has­mann. Ueber­reu­ter. 2018.
  • Mör­de­ri­sches Wien. City-Guide zu den Schau­plät­zen des Schre­ckens. Benda Richard, Harald Seyrl. Edi­tion Seyrl. 1996.
  • Mumi­en­stadt Wien: Men­schen – Mumien – Kon­ser­vierte Kör­per. Hagen Schaub, Robert Bouchal. Pich­ler. 2013.
  • Nur in Wien. Ein Rei­se­füh­rer zu ein­zig­ar­ti­gen Orten, gehei­men Plät­zen und unge­wöhn­li­chen Sehens­wür­dig­kei­ten. Dun­can J. D. Smith. Brand­stät­ter. 2012.
  • Spuk-Guide Wien. Die schau­rigs­ten Plätze der Stadt. Gabriele Has­mann. Ueber­reu­ter. 2017.
  • Unheim­li­ches Wien: Gru­se­lige Orte – Schau­rige Gestal­ten – Okkulte Expe­ri­mente. Gabriele Lukacs, Robert Bouchal. Pich­ler. 2013.
  • Wien lite­ra­risch. Her­aus­ge­ge­ben von Chris­tine Hehle. Auf­bau Taschen­buch. 2012.

Den ers­ten Teil des Bei­trags „Ein Wie­ner Spuk-Spa­zier­gang“ fin­det ihr hier. // Ein Bei­trag zum Spe­cial #Todes­stadt. Hier könnt ihr alle Bei­träge lesen. // Mehr über Annu und ihre Füh­run­gen könnt ihr hier erfah­ren: www​.tours​-with​-annu​.at

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1 comment

Ein Wiener Spuk-Spaziergang (Teil 1) – Bücherstadt Kurier 28. Oktober 2019 - 15:50

[…] es wei­ter­geht, erfahrt ihr am 28.10.19 im zwei­ten Teil des Bei­trags „Ein Wie­ner Spuk-Spa­zier­gang“. In die­sem fin­det ihr auch eine […]

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