Ein Zopf mit langem Bart

by Worteweberin Annika

Drei Frauen – in Indien, Kanada und Ita­lien – sind durch die Haare mit­ein­an­der ver­bun­den. In Lae­ti­tia Colom­ba­nis „Der Zopf“ ver­we­ben sich die Schick­sale wie Haar­sträh­nen. Worte­we­be­rin Annika kann nicht wirk­lich ver­ste­hen, warum die­ser Roman die Best­sel­ler­lis­ten stürmt.

Smita lebt als Dalit, als Unbe­rühr­bare, in Uttar Pra­desh, Indien. Ihre Auf­gabe ist es, die Fäka­lien der rei­che­ren, rei­ne­ren Men­schen zu ent­fer­nen. Diese Arbeit möchte sie ihrer klei­nen Toch­ter Lalita erspa­ren, hat des­we­gen sogar einen Platz in der Schule für sie ergat­tert. Doch auch hier blei­ben die Kas­ten­gren­zen bestehen. Lalita wird unwür­dig behan­delt und so bleibt Smita und Lalita nur die Flucht in ein neues Leben. Eine Flucht, die sie indi­rekt in Ver­bin­dung mit Giu­lia setzt.

Giu­lias Fami­lie lei­tet seit Genera­tio­nen einen Betrieb, in den Haare sizi­lia­ni­scher Frauen zu Perü­cken ver­webt wer­den. Als ihr Vater nach einem Unfall im Koma liegt, begeg­net ihr nicht nur die große Liebe in Gestalt eines sinn­li­chen Inders, sie stellt auch fest, dass das Unter­neh­men drin­gend geret­tet wer­den muss und sucht nach einer Lösung.

Die dritte Frau im Bunde ist Sarah, erfolg­rei­che kana­di­sche Anwäl­tin, geschie­den, Mut­ter von drei Kin­dern, für die sie kaum Zeit hat. Als bei ihr Brust­krebs dia­gnos­ti­ziert wird, fällt ihre Kar­riere lang­sam in sich zusammen.

Im Rah­men des Erwartbaren

Die drei Geschich­ten wech­seln sich kapi­tel­weise ab und weben so nach und nach ein Gesamt­bild. Das ist nicht revo­lu­tio­när, sorgt aber doch für etwas Abwechs­lung im Ver­gleich zu vie­len ein­fa­cher kon­stru­ier­ten Romanen.

Die sprach­li­chen Bil­der und fes­ten Wen­dun­gen, die sich in „Der Zopf“ häu­fen, haben – um beim Thema Haare zu blei­ben – meis­tens einen lan­gen Bart und kom­men nicht über die Gren­zen des Erwart­ba­ren hin­aus; da wird im Boden ver­sun­ken, Pläne wer­den begra­ben und für tot erklärt, Schick­sale ver­knüpft, Mau­ern errich­tet. Natür­lich führt das dazu, dass sich der Roman leicht und gut lesen lässt, viel­leicht auch ein Grund für den gro­ßen Erfolg, den „Der Zopf“ sowohl in Frank­reich als auch in Deutsch­land ver­zeich­nen konnte.

Ein wei­te­rer Grund dürfte die momen­tane Beliebt­heit des The­mas „starke Frauen“ sein, das ja spä­tes­tens durch „Good night sto­ries for rebel girls“ in aller Munde ist und dem sich „Der Zopf“ schon mit der Über­schrift des Klap­pen­tex­tes ver­schreibt: „Drei Frauen, drei Leben, drei Kon­ti­nente – die­selbe Sehn­sucht nach Frei­heit“ heißt es näm­lich da. Starke Frauen in der Lite­ra­tur, das ist ja erst­mal eine gute Idee.

Friede, Freude, Eierkuchen

Ebenso erwart­bar wie die Spra­che gestal­tet sich aller­dings tat­säch­lich der Fort­gang der Geschichte, denn alle Wider­stände, die sich den drei Prot­ago­nis­tin­nen in den Weg stel­len, las­sen sich recht schnell, wenn auch nicht immer bequem, über­win­den. So kann der Roman mit einem ein­zi­gen gro­ßen Happy End schlie­ßen, in dem sich alle drei Frauen durch das Uni­ver­sum mit­ein­an­der ver­bun­den füh­len und vol­ler Hoff­nung in die Zukunft bli­cken, die sicher­lich trotz einer Che­mo­the­ra­pie und trotz aller Wid­rig­kei­ten des Lebens in den Slums von Chen­nai ganz rosig wer­den wird. Und natür­lich ist die Kar­rie­re­frau Sarah am Ende ihrer Geschichte bekehrt und wird sich von nun an viel mehr Zeit für ihre Fami­lie nehmen.

Hoff­nung schön und gut, aber läuft das nicht alles etwas zu glatt? „Der Zopf“ befrie­digt das Bedürf­nis nach dem Ende aller Pro­bleme, nach Friede, Freude, Eier­ku­chen, gau­kelt sei­nen Lese­rin­nen und Lesern vor, dass alles gut wer­den wird – egal, ob man nun Brust­krebs hat oder als Unbe­rühr­bare in Indien lebt. In einer solch rosi­gen Welt scheint es dann auch nicht beson­ders schwie­rig, eine starke Frau zu sein.

Lebens­wel­ten

Sicher­lich kann man dem Roman zugu­te­hal­ten, dass ja immer­hin mit Smita eine Figur ein­ge­führt wird, die anders ist als die Frauen, die man aus der sons­ti­gen Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur der Gegen­wart kennt. Die Lese­rin­nen und Leser kön­nen in ihrer Geschichte etwas über die Lebens­rea­li­tät in Indien erfah­ren, das sie wahr­schein­lich noch nicht wuss­ten – und das sogar, ohne dass die Lek­türe ein schlech­tes Gefühl hin­ter­lässt. Bleibt nur die Frage, ob so ein süßer Nach­ge­schmack immer wün­schens­wert ist.

Im Gegen­satz zu Smi­tas zumin­dest für mich glaub­hafte Lebens­um­stände in Indien hat mich der All­tag von Giu­lia in Ita­lien ernst­haft ver­wirrt. Ihr Sizi­lien der Gegen­wart ist näm­lich eines, das von kirch­li­chen Zwän­gen und gesell­schaft­li­chen Vor­ur­tei­len domi­niert wird (bei­des sicher­lich mög­lich), in dem man noch Briefe schreibt und nachts mit Stein­chen an Fens­ter wirft, aber keine Tele­fon­num­mern aus­tauscht, in dem man sich in Grot­ten liebt und sich über den Ehe­mann defi­niert. Das alles erin­nert an das Deutsch­land der 50er und 60er Jahre – ob es in Ita­lien heute noch so aus­sieht, möchte ich doch zumin­dest bezwei­feln. Falls ja, ist es in einer so struk­tu­rier­ten Gesell­schaft natür­lich schwie­ri­ger, sich als selbst­be­wusste Frau durch­zu­schla­gen – falls nicht, spielt es zumin­dest der mär­chen­haft-rosi­gen Idee in die Hände, der „Der Zopf“ zugrunde liegt.

Der Zopf. Lae­ti­tia Colom­bani. Aus dem Fran­zö­si­schen von Clau­dia Mar­quardt. S. Fischer. 2018.

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