Eine Serpentinenfahrt ohne Ausstieg

by Bücherstadt Kurier

In den sozia­len Medien wurde es teil­weise bereits als „bes­tes Buch des Jah­res“ beti­telt: Oli­via Wen­zels „1000 Ser­pen­ti­nen Angst“. Bücher­städ­te­rin Zarah hat sich auf eine kur­ven­rei­che Fahrt durch das Debüt bege­ben und ist durch­ge­schüt­telt und auf­ge­löst zurück­ge­blie­ben. Ein groß­ar­ti­ges Debüt über Ras­sis­mus, Lebens­kon­zepte, Gegen­wart und Erinnerungen.

„Roman“ steht auf dem bun­ten Schutz­um­schlag von Oli­via Wen­zels Debüt „1000 Ser­pen­ti­nen Angst“, aber wer die­ses knall­gelbe Buch mit den schwarz-pin­ken Krei­sen öff­net und eine klas­si­sche Erzähl­weise, einen klas­si­schen Hand­lungs­auf­bau erwar­tet, hat sich getäuscht. Schon der erste Satz lie­fert einen kata­pult­ar­ti­gen Ein­stieg in die Gedan­ken- und Gefühls­welt der Prot­ago­nis­tin: „Mein Herz ist ein Auto­mat aus Blech.“

Immer wie­der taucht im Laufe der Sei­ten die­ses Bild auf, die Erzäh­le­rin ver­kriecht sich in dem Auto­ma­ten, er wird zum Sinn­bild ihres Ver­hält­nis­ses zur Welt, ihrer Betrach­tung der Welt und vor allem ihrer Schuld­ge­fühle: Wäh­rend sie vor einem sol­chen Snack­au­to­ma­ten am Bahn­hof stand, warf sich ihr Zwil­lings­bru­der vor einen ein­fah­ren­den Zug.

Der Roman ist eine Auto­fik­tion, also geprägt von gleich­zei­tig auto­bio­gra­fi­schen und fik­tio­na­len Ele­men­ten: Die Rah­men­punkte sind von Wen­zels eige­nem Leben geprägt, die Prot­ago­nis­tin ähnelt ihr in Den­ken und Han­deln nicht immer, Vie­les wurde hin­zu­ge­fügt. Und den­noch ist er nicht nur ein Text über die­ses Trauma. Es sind viel­mehr lau­ter Moment­auf­nah­men aus dem Leben einer Schwar­zen Frau in Deutsch­land und wäh­rend ihrer Rei­sen nach New York und Viet­nam, es ist ein Sich-Vor­an­tas­ten zurück in die eigene Jugend und Kindheit.

Wie nicht enden wol­lende Ser­pen­ti­nen liest sich das, wie eine Auto­fahrt, die kei­nen Halt ein­legt und Übel­keit ver­ur­sacht, weil hin­ter jeder Kurve dann doch nur eine neue Kurve lau­ert, eine neue Erfah­rung, ein neuer Erin­ne­rungs­fet­zen. Zusam­men fügen sie sich zu einem Gesamt­bild der Angst, die die namen­lose Prot­ago­nis­tin seit ihrem Auf­wach­sen beglei­tet: Angst vor ras­sis­ti­schen Über­grif­fen, Angst davor, nicht dazu­zu­ge­hö­ren, Angst davor, zu sehr auf­zu­fal­len, Angst vor der poli­ti­schen Entwicklung.

Zwei­feln in Dialogform

Immer wie­der sind es die ein­zel­nen Momente, die so viel aus­ma­chen. Ein fröh­li­cher Rad­aus­flug mit Zel­t­über­nach­tung am See wird zur exis­ten­zi­el­len Bedro­hung, als Skin­heads auf­tau­chen, ein Mann beschimpft die Prot­ago­nis­tin als Kind mit schlimms­ten Worten.

Ein Groß­teil des Buches ist in Dia­log­form geschrie­ben, der Roman wird von sol­chen Dia­lo­gen ein­ge­rahmt, mit Erin­ne­run­gen und Moment­auf­nah­men dazwi­schen. Das beginnt bei­spiels­weise mit einer Frage, die immer wie­der auf­taucht: „WO BIST DU JETZT? – Ich befinde mich in Durham, North Caro­lina, dem zweit­nörd­lichs­ten der US-ame­ri­ka­ni­schen Südstaaten.“

Mal erscheint das wie eine Aus­ein­an­der­set­zung der Prot­ago­nis­tin mit sich selbst, mal wie ein Kreuz­ver­hör, mal wie ein Zwie­ge­spräch, mal hält es das Lese­pu­bli­kum dazu an, den Text selbst kri­tisch zu hin­ter­fra­gen, als Frag­ment zu sehen, vor allem bei Fra­gen wie: „WAS UNTERSCHLAGE ICH JETZT?“ Immer wie­der wird nicht nur das Erzählte, son­dern wer­den auch die eige­nen Pri­vi­le­gien hinterfragt.

Fami­lie, Freund­schaft, Lebenskonzepte

Mit­ten im Roman offen­bart sich bei der Erzähl­stimme eine Angst­stö­rung, die sie dazu zwingt, inne­zu­hal­ten, nach­zu­den­ken. Immer mehr Erin­ne­run­gen drän­gen sich in den Vor­der­grund. Das Ver­hält­nis zur Mut­ter – wäh­rend ihres Auf­wach­sens junge Pun­ke­rin, die ohne nenn­ba­ren Grund von der Stasi ver­haf­tet wurde – ist schwie­rig, das zum Vater, der kurz nach der Geburt der Zwil­linge zurück nach Angola ging, kaum vorhanden.

Selbst die Groß­mutter, in der DDR-Zeit treue SED-Anhän­ge­rin und eine der wich­tigs­ten Bezugs­per­so­nen der Erzäh­le­rin, ist tief gefan­gen in einem Sys­tem, das ras­sis­tisch geprägt ist: „Als wir Kin­der waren, nannte uns Oma Rita gern lie­be­voll ihre Scho­ko­krü­mel. Auch heute sagt sie das noch manch­mal. Ich habe schon öfter ver­sucht, ihr zu ver­deut­li­chen, dass der Ver­gleich mei­ner Haut mit Scho­ko­lade neben ihrer Zunei­gung vor allem zeigt, dass sie ihre eigene Haut­farbe als Selbst­ver­ständ­lich­keit sieht, von der meine Haut abweicht. Ansons­ten müsste sie sie nicht immer wie­der benen­nen, ansons­ten hätte sie auch auf die Idee kom­men kön­nen, mei­nen Opa zu Leb­zei­ten mit mein süßes Raf­fa­el­lo­bäll­chen oder ihre eige­nen Töch­ter mit meine lie­ben hart­ge­koch­ten, ordent­lich geschäl­ten Eier anzu­spre­chen.“

Es geht aber nicht nur um Fami­lie in Wen­zels Roman, son­dern auch um freund­schaft­li­che Bezie­hun­gen, die Frage nach Bezie­hungs­kon­zep­ten und Queer­ness als Schwarze Frau.

Die Orte wech­seln, die Zei­ten wech­seln, die The­men wech­seln. Das könnte pro­ble­ma­tisch sein, aber es geht wun­der­bar auf. In die­ser stän­di­gen Flui­di­tät liegt ein Sog, der das Buch so schnell nicht aus der Hand legen lässt, eine Ser­pen­ti­nen­fahrt, bei der Aus­stei­gen keine Option ist. Es bie­tet Ein­blick in ein Leben, in die Frage nach Her­kunft, in Ängste, Wün­sche, Poli­tik und vor allem hilft es bei einer unfass­bar wich­ti­gen Auf­gabe: die eige­nen Pri­vi­le­gien zu erken­nen und zu hinterfragen.

1000 Ser­pen­ti­nen Angst. Oli­via Wen­zel. S. Fischer. 2020.

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