Einhörner, Klischees und viel Rosa: Kein Platz für Pädagogik

by Zeichensetzerin Alexa

„Gra­ci­ella will ein Ein­horn sein“ – ja, warum denn auch nicht. Schließ­lich schlüp­fen Kin­der – und gerne auch mal Erwach­sene, die sich das Kind­sein bewahrt haben – gerne in Fan­ta­sie­wel­ten oder in Rol­len­spiele. Im Grunde kann Gra­ci­ella alles sein, was sie will, wenn sie es nur wirk­lich will. Das war’s aber auch schon mit der Päd­ago­gik. Einen Mehr­wert dar­über hin­aus bie­tet die­ses Bil­der­buch nicht. Zei­chen­set­ze­rin Alexa wirft es in die Papiertonne.

„Darf man Bücher weg­schmei­ßen?“, fragte vor weni­gen Jah­ren Uwe Kal­kow­ski auf kaf​fee​haus​sit​zer​.de. Meine Ant­wort dar­auf lau­tete: „Ich kann ver­ste­hen, wenn man Bücher aus­sor­tie­ren möchte, weil man zu wenig Platz hat oder weiß, dass man bestimmte Titel sowieso nie­mals lesen wird. Aber weg­wer­fen würde ich die Bücher nicht.“ Nach der Lek­türe die­ses Bil­der­bu­ches hat sich meine Mei­nung schlag­ar­tig geän­dert. Denn klar ist für mich: Bil­der­bü­cher erzie­hen mit. Sie ver­mit­teln Werte, erwei­tern den Hori­zont, geben eine Ori­en­tie­rung und beein­flus­sen die (klei­nen) Leser im posi­ti­ven sowie im nega­ti­ven Sinne. Letz­te­res gilt für die­ses Bilderbuch.

Was will uns Gra­ci­ella sagen?

Die Prot­ago­nis­tin des Bil­der­bu­ches, Gra­ci­ella, ist eigent­lich ein Nas­horn­kind, möchte aber unbe­dingt ein Ein­horn sein. „Ich will ein Ein­horn sein! Ich will ein Ein­horn sein!“, ruft sie, ein rosa Ein­horn-Kuschel­tier hal­tend. Aber die Mut­ter schüt­telt den Kopf. „Biiiii­tte!“, jam­mert Gra­ci­ella und jam­mert und jam­mert und weint. Aber die Mut­ter, die gerade am Auf­räu­men ist, zeigt sich genervt: Sie schüt­telt mit dem Kopf und macht Musik an, um ihre Toch­ter nicht hören zu müs­sen. Dann geht sie, ohne auch nur ein ein­zi­ges Wort mit ihrer Toch­ter gewech­selt zu haben. (Erst am Ende der Geschichte taucht sie wie­der auf, nur um ihre Toch­ter auf etwas hin­zu­wei­sen, was sie nicht tun darf.)

Gra­ci­ella reagiert mit „Nie darf ich was!“ und fin­det das total gemein. Doch ersicht­lich wird nicht, wes­halb das Nas­horn­mäd­chen ihre Mut­ter um Erlaub­nis fra­gen muss, wenn es in die Rolle eines Ein­horns schlüp­fen will. Das Spiel eines Kin­des ist etwas so Natür­li­ches, dass es sich auto­ma­tisch darin ver­tieft. Es beginnt, die Vor­stel­lung, jemand anders zu sein, anzu­neh­men – wohl­wis­send, dass es nur eine ange­nom­mene Rolle ist.

Gra­ci­ella aller­dings ist kein Kind, das selbst­be­stimmt agie­ren kann. Es braucht die Bestä­ti­gung der Mut­ter, auch wenn es eine erfun­dene ist. Trot­zig läuft das Nas­horn­mäd­chen nach drau­ßen und rüt­telt an der Wäsche­leine. „Ich darf das. Hat Mama gesagt!“, meint sie, was natür­lich nicht stimmt, aber ein­deu­tig zeigt, dass ihr die Bestä­ti­gung, etwas tun zu dür­fen, wich­tig ist. Als die Wäsche­leine reißt, die Klei­dung auf sie fällt und sie dadurch in ein Ein­horn „ver­wan­delt“, beginnt das Mäd­chen, sich in ein „Aben­teuer“ nach dem ande­ren zu stür­zen. Gefan­gen in ihrer Rosa-Ein­horn-Fan­ta­sie­welt begeg­net sie so man­chen Gefah­ren, die sie locker­leicht löst.

Vol­ler Rosa und Klischees

Das Cover des Bil­der­bu­ches ist tat­säch­lich ein guter Ein­blick in den Innen­teil. Denn da sieht es genauso rosa und „mäd­chen­haft“ aus. Natür­lich muss Gra­ci­ella ein Kleid­chen, rosa Schuhe und eine Schleife auf dem Kopf tra­gen. Und ganz dem Bild eines ner­vi­gen Kin­des ent­spre­chend, ist Gra­ci­ella ein übel­lau­ni­ges, jam­mern­des Mäd­chen, das aus Trotz allen mög­li­chen gefähr­li­chen Blöd­sinn macht.

Die Mut­ter wird als Haus­frau dar­ge­stellt, die es nicht schafft, ihrer Toch­ter Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Eine, die über­for­dert ist. Eine, die den gan­zen Tag zu Hause ver­bringt. Beide Rol­len, die hier ange­spro­chen wer­den, erschei­nen weder vor­bild­lich noch sym­pa­thisch. Nach der Lek­türe wird man mit einem Gefühl zwi­schen Ver­wir­rung (Was ist die Aus­sage die­ses Buches?), genervt sein (Wieso han­deln die Prot­ago­nis­ten so?) und Ent­set­zen (Wieso wird so etwas ver­öf­fent­licht?) zurückgelassen.

Ein Bil­der­buch muss keine päd­ago­gi­schen Ziele ver­fol­gen. Es kann schlicht unter­hal­ten und Quatsch erzäh­len, solange keine nega­ti­ven Bil­der ver­mit­telt wer­den. „Gra­ci­ella will ein Ein­horn sein“ tut aber genau das: Das Bil­der­buch lebt (klei­nen) Lesern vor, dass Kin­der nichts dür­fen – nicht ein­mal spie­len! – und dass Müt­ter den Haus­halt schmei­ßen müs­sen. Es zeigt, dass man nur mit Trotz etwas errei­chen kann und dass man sich in Gefah­ren stür­zen muss, um die Auf­merk­sam­keit der Mut­ter auf sich zu zie­hen – auch wenn diese am Ende nur wie­der schimpft.

So man­chen Büchern wün­sche ich Auf­merk­sam­keit. Sol­chen, die in irgend­ei­ner Form den Hori­zont erwei­tern, ein posi­ti­ves Gefühl hin­ter­las­sen oder ange­nehm unter­hal­ten. „Gra­ci­ella will ein Ein­horn sein“ gehört lei­der nicht dazu – und wan­dert mit die­ser War­nung in die Papiertonne.

Gra­ci­ella will ein Ein­horn sein. Annette Lan­gen. Illus­tra­tion: Anne-Kath­rin Behl. Nord-Süd Ver­lag. 2016.

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