Empfindsamkeit und Liebesleid

by Zeichensetzerin Alexa

„Die Lei­den des jun­gen Wert­her“ ist ein von Johann Wolf­gang von Goe­the ver­fass­ter Brief­ro­man, der 1774 zur Leip­zi­ger Buch­messe erschien. Goe­the wurde mit sei­ner Geschichte um den jun­gen Wert­her, der unglück­lich in die ver­lobte Lotte ver­liebt ist, in Deutsch­land über Nacht berühmt. Heute zählt der Roman zu den erfolg­reichs­ten der Lite­ra­tur­ge­schichte. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

Goe­the selbst schrieb über sein Werk:

„Eine Geschichte..., darin ich einen jun­gen Men­schen dar­stelle, der, mit einer tie­fen rei­nen Emp­fin­dung und wah­rer Pene­tra­tion begabt, sich in schwär­mende Träume ver­liert, sich durch Spe­ku­la­tion unter­gräbt, bis er zuletzt durch dazu­tre­tende unglück­li­che Lei­den­schaf­ten, beson­ders eine end­lose Liebe zer­rüt­tet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt.“

In Brief­form erzählt Wert­her über den Zeit­raum vom 4. Mai 1771 bis 24. Dezem­ber 1772 sei­nem Freund von sei­nem Lei­den. Am 22. Mai schreibt er:

„Daß das Leben des Men­schen nur ein Traum sei, ist man­chem schon so vor­ge­kom­men, und auch mit mir zieht die­ses Gefühl immer herum. Wenn ich die Ein­schrän­kung ansehe, in wel­cher die täti­gen und for­schen­den Kräfte des Men­schen ein­ge­sperrt sind; wenn ich sehe, wie alle Wirk­sam­keit dahin­aus läuft, sich die Befrie­di­gung von Bedürf­nis­sen zu ver­schaf­fen, die wie­der kei­nen Zweck haben, als unsere arme Exis­tenz zu ver­län­gern, und dann, daß alle Beru­hi­gung über gewisse Punkte des Nach­for­schens nur eine träu­mende Resi­gna­tion ist, da man sich die Wände, zwi­schen denen man gefan­gen sitzt, mit bun­ten Gestal­ten und lich­ten Aus­sich­ten bemalt—das alles, Wil­helm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt! Wie­der mehr in Ahnung und dunk­ler Begier als in Dar­stel­lung und leben­di­ger Kraft. Und da schwimmt alles vor mei­nen Sin­nen, und ich lächle dann so träu­mend wei­ter in die Welt.“ […]

Wert­her schreibt in sei­nem Brief an Wil­helm über die Ein­schrän­kun­gen, in wel­che „die Kräfte des Men­schen ein­ge­sperrt sind“ und dass alle Taten nur dazu die­nen, die eige­nen Bedürf­nisse zu befrie­di­gen. Er beschreibt eine Welt vol­ler Ver­gel­tung und Begier. Den Erwach­se­nen ver­gleicht er mit einem Kind. Denn Erwach­sene wis­sen genauso wenig, was auf sie zukommt und wie sie „nach wah­ren Zwe­cken“ han­deln. Ebenso wer­den sie durch Dinge, die ihre Bedürf­nisse stil­len, regiert.

Wert­her, der unglück­lich in Lotte ver­liebt ist, macht sich viele Gedan­ken, zu denen der Sinn sei­ner Taten und seine uner­füll­ten Wün­sche zäh­len. Er fragt sich, ob man glück­lich sein kann, wenn man Demut erlebt hat und ob das Leben, so wie es ist, Sinn ergibt. Denn unun­ter­bro­chen ist das Gefühl von Bedürf­nis­sen in uns, die wie­der­keh­ren oder sich stei­gern, wenn sie für einen Moment befrie­digt sind – wie ein nie­mals enden wol­len­der Kreis­lauf. Und wenn jemand in der Demut erkennt, was los ist, wor­auf das alles hin­aus­läuft, dann wird er ganz ruhig und erschafft sich seine eigene Welt. Er begreift, dass er die Frei­heit hat, selbst zu bestim­men, wann er diese Welt ver­las­sen will. „Und dann, so ein­ge­schränkt er ist, hält er doch immer im Her­zen das süße Gefühl der Frei­heit, und daß er die­sen Ker­ker ver­las­sen kann, wann er will.“

Diese Ansicht soll zu Zei­ten Goe­thes viele junge Men­schen zum Sui­zid ver­lei­tet haben. Man spricht auch von einem Wert­her-Effekt oder einer Sui­zid­welle, die nach der Ver­öf­fent­li­chung des Brief­ro­mans „Die Lei­den des jun­gen Wert­her“ im Jahr 1774 auf­ge­tre­ten sein soll. Die Begeis­te­rung, die die­ser Roman aus­löste, zeigte sich außer­dem in der Ver­klei­dung der Men­schen, die sich plötz­lich anzo­gen wie Wert­her. 1775 wurde der Roman in Leip­zig und ande­ren Städ­ten ver­bo­ten, weil er als Emp­feh­lung des Selbst­mor­des ange­se­hen wurde.

Heute wird Goe­thes „Die Lei­den des jun­gen Wert­her“ als Schul­lek­türe gele­sen und ana­ly­siert. Dabei wer­den Merk­male der Epo­che „Sturm und Drang“ bespro­chen, sowie die Erzähl­form, der Schreib­stil und der Inhalt unter die Lupe genom­men. Wert­hers Briefe geben noch heute eine gute Grund­lage als Dis­kus­si­ons­stoff, sei es das Thema Selbst­mord, die uner­wi­derte Liebe, das Lei­den oder der Sinn des Lebens. Die Briefe sind mit so viel Gefühl und Auf­rich­tig­keit geschrie­ben, dass man Wert­her ver­ste­hen kann, in sei­nen Hand­lun­gen und Gedan­ken, und sich nicht sel­ten darin wiedererkennt.

Ich erin­nere mich an eine Schul­auf­gabe, bei der es um die Beant­wor­tung der Fra­gen ging: „Wie würde Wert­her heute einen Brief schrei­ben? Würde er über­haupt einen Brief schrei­ben? Oder eher eine SMS? Wie würde die SMS aus­se­hen?“ Wert­hers Briefe in Form von einer SMS? Undenk­bar. Es ist das Phi­lo­so­phi­sche, bild­lich Erzäh­lende, Schwär­me­ri­sche, Beschrei­bende, das seine Texte aus­macht. Ob es heute noch Men­schen gibt, die sol­che Briefe schrei­ben kön­nen? Viel­leicht bie­tet der kom­mende Welt­post­kar­ten­tag ja einen guten Anlass dafür.

Emp­feh­lens­wert ist neben die­sem Brief­ro­man die Hör­fas­sung. Das wohl schönste Hör­buch ist mei­ner Mei­nung nach die vom Lite­ra­tur-Café, gele­sen von Wolf­gang Tischer. Es ent­stand in Zusam­men­ar­beit mit dem dtv-Ver­lag und steht auf der Web­site lite​ra​tur​cafe​.de zum kos­ten­lo­sen Down­load zur Verfügung.

Bild: Wil­helm Amberg: Vor­le­sung aus Goe­thes Wert­her, 1870 Gal­lery: Alte Natio­nal­ga­le­rie Berlin

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4 comments

Maki 28. Juli 2014 - 12:56

Hab ich auf mei­nem SuB 🙂

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kuhlskolumne 30. Juli 2014 - 5:16

die rezen­sio­nen von alexa die ja auch emp­feh­lun­gen sind haben etwas sehr tie­fes etwas sehr anrüh­ren­des und ich poste sie noto­risch im maga­zin “Judas und Mar­lene” auf face­book https://​www​.face​book​.com/​p​e​r​m​a​l​i​n​k​.​p​h​p​?​s​t​o​r​y​_​f​b​i​d​=​2​7​2​5​9​4​8​6​6​2​7​5​2​3​5​&​i​d​=​1​5​2​1​4​3​6​0​4​9​8​7​029 als bei­spiel und dank für ein paar glän­zende erheb­lich­kei­ten im alltag

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Bücherstadt Kurier 31. Juli 2014 - 14:24

Vie­len Dank für das Feed­back! Es lohnt sich, auch die Rezen­sio­nen der ande­ren Team­mit­glie­der zu lesen! 🙂
Liebe Grüße, Alexa

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Bücherstadt Kurier 13. August 2014 - 12:30

Mehr zum ‚Wert­her-Effekt‘:
„Bestimmte For­men der Bericht­erstat­tung über Sui­zide in den Medien kön­nen wei­tere Sui­zide als Nach­ah­mungs­ta­ten her­vor­ru­fen. Dies wird in der wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur als ‚Wert­her-Effekt‘ bezeich­net. Nach dem Erschei­nen von Goe­thes ‚Die Lei­den des jun­gen Wert­her‘ kam es in ganz Europa zu Nach­ah­mungs­ta­ten. Die Sui­zi­d­en­ten ori­en­tier­ten sich sehr stark an der Roman­vor­lage.“ Hier ist eine Emp­feh­lung zur Bericht­erstat­tung über Suizid: 

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