Entscheidungsbasierte Spiele: Das Schicksal selbst in die Hand nehmen

by Erzähldetektivin Annette

Ob der Unter­gang einer gan­zen Stadt ver­hin­dert, der eigene Sohn aus den Fän­gen eines Seri­en­mör­ders geret­tet oder Ter­ro­ris­ten ding­fest gemacht wer­den müs­sen – ent­schei­dungs­ba­sierte Spiele sind „in“. Erzähl­de­tek­ti­vin Annette gibt einen Ein­druck von der Viel­falt des Gen­res und über­legt, was Spie­ler eigent­lich so an der­ar­ti­gen Spie­len fasziniert.

Auch wenn ich jetzt viel­leicht als uncool abge­stem­pelt werde oder – noch schlim­mer – gän­gige Frau­en­kli­schees erfülle: Ich spiele lei­den­schaft­lich gerne „Die Sims“. Vor allem der dritte Teil des Lebens­si­mu­la­tors hat es mir ange­tan. Was gefällt mir daran so gut? Ich mag die Offen­heit der Spiel­welt und dass ich den Spiel­ver­lauf so stark beein­flus­sen kann. Denn mal ehr­lich: Ohne uns wären Sims doch gar nicht lebens­fä­hig, müss­ten sie eigene Ent­schei­dun­gen treffen!

„Ent­schei­dun­gen“ – das ist ein gutes Stich­wort. Denn obwohl bei „Die Sims“ am lau­fen­den Band bedeut­same Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den müs­sen – Wel­che Kariere schlage ich ein? Wohin möchte ich ver­rei­sen? Schi­cke ich meine Kin­der zur Uni? Wie soll meine Katze hei­ßen? Wel­chen Radio­sen­der möchte ich hören? – gehört das EA-Game nicht zu den soge­nann­ten „ent­schei­dungs­ba­sier­ten Spie­len“. Unter die­sem Begriff wer­den Spiele zusam­men­ge­fasst, die einer strin­gen­ten Story fol­gen, dabei jedoch von den Ent­schei­dun­gen des Spie­lers beein­flusst wer­den. Die in der Regel auf ein simp­les „Ent­we­der-Oder“ her­un­ter­ge­bro­che­nen Ent­schei­dun­gen haben nicht sel­ten höchst mora­li­sche Impli­ka­tio­nen und bestim­men stark den Cha­rak­ter des Spiels.

Spä­tes­tens seit dem durch­schla­gen­den Erfolg von „Heavy Rain“ (2010) erfreut sich die­ses Genre gro­ßer Beliebt­heit. Und auch wenn der Hit aus dem Hause Quan­tic Dream nicht der erste sei­ner Art ist, so hat er doch eine ganze Reihe wei­te­rer Titel inspi­riert: In „Life is strange“ (2015) muss die junge Max Caul­field den Unter­gang ihrer Hei­mat­stadt ver­hin­dern, in „Until Dawn“ (2015) müs­sen acht Freunde eine Nacht vol­ler Mord und Mons­tern über­ste­hen und in „Dis­ho­no­red“ (2012) nimmt Corvo Attano Rache dafür, unschul­dig des Mor­des beschul­digt wor­den zu sein. In die­sen und diver­sen wei­te­ren Titeln obliegt es dem Spie­ler, Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, die den Ver­lauf der Hand­lung ebenso beein­flus­sen, wie das Schick­sal der Cha­rak­tere. Auch Game-Spin-Offs zu Serien wie „The Wal­king Dead“ dre­hen sich um die Ent­schei­dun­gen der Spieler.

Auf große Kraft folgt große Verantwortung

Viele Gamer dürfte vor allem die Vor­stel­lung eines „inter­ak­ti­ven Films“ rei­zen, die nicht sel­ten als bewer­ben­des Ver­spre­chen gege­ben wird. Die Spie­ler fol­gen einer Hand­lung fernab ihrer all­täg­li­chen Lebens­er­fah­rung, kön­nen mit die­ser spiel­ba­ren Welt jedoch inter­agie­ren. Je rea­lis­ti­scher dabei die Dar­stel­lung, desto leich­ter fällt das Ein­tau­chen in diese Welt. Tat­säch­lich wird nicht nur die Gra­fik die­ser Spiele mit viel Liebe zum Detail umge­setzt – im Falle von „Heavy Rain“ und sei­nem Nach­fol­ger „Bey­ond: Two Souls“ (2013) bei­spiels­weise unter Ver­wen­dung ech­ter Schau­spie­ler. Auch die Cha­rak­tere sind genau aus­ge­ar­bei­tet und ent­spre­chend inter­es­sant zu spie­len. Hier dürfte wohl auch der größte Unter­schied zu einem Simu­la­tor wie „Die Sims“ deut­lich wer­den: Wäh­rend bei dem einen Spiel die Cha­rak­tere zwar steu­er­bar, aber in ihrer Dar­stel­lung eben doch nicht beson­ders rea­li­täts­nah sind, scheint es bei „Heavy Rain“ und Co. fast so, als habe man die Schick­sale ech­ter Men­schen in der Hand.

Die Spie­ler tra­gen eine große Ver­ant­wor­tung auf ihren Schul­tern. Sie inves­tie­ren emo­tio­nal viel in Prot­ago­nis­ten und Hand­lung und blei­ben schon des­we­gen bis zum Ende dabei, weil sie wis­sen wol­len, ob die Ent­schei­dun­gen rich­tig waren und die Sache gut für „ihre“ Cha­rak­tere aus­geht. Doch nicht immer haben die Ent­schei­dun­gen wirk­lich einen der­art gro­ßen Ein­fluss, wie die Ent­wick­ler es glau­ben machen wol­len. So hat bei­spiels­weise „Life is strange“ zwar einige ner­ven­auf­rei­bende Ent­schei­dungs-Sze­nen. Letzt­end­lich kom­men Haupt­cha­rak­ter Max und ihre beste Freun­din Cloe jedoch in jeder Spiel-Vari­ante am sel­ben End­punkt an, wo eine letzte Ent­we­der-Oder-Ent­schei­dung auf die Spie­ler war­tet. Alle bis dahin getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen wir­ken nun jedoch unnö­tig und nich­tig. „Heavy Rain“ war­tet hin­ge­gen mit 18 ver­schie­de­nen Enden auf. Beim Nach­fol­ger „Bey­ond: Two Souls“ schei­nen die im Spiel getrof­fe­nen Ent­schei­dun­gen nicht ganz so wir­kungs­stark, doch kön­nen Spie­ler auch hier elf ver­schie­de­nen Enden errei­chen, je nach­dem, wel­chen Cha­rak­te­ren sie im Vor­feld das Leben geret­tet haben.

Geheim­tipps und Klassiker

So unter­schied­lich die tat­säch­li­chen Ein­fluss­mög­lich­kei­ten der Spie­ler sind, so abwei­chend fal­len auch die Bewer­tun­gen aus. In ent­spre­chen­den Foren wird heiß dis­ku­tiert, wel­che „Choice and Consequence“-Spiele denn nun wirk­lich in der Hand des Spie­lers lie­gen. Beson­ders häu­fig wird dabei auf Spiele ver­wie­sen, die bereits einige Zeit vor „Heavy Rain“ auf den Markt gekom­men sind, wie „The Wit­cher“ (2007), „Pla­ne­s­cape: Torment“ (1999) oder „Ultima IV: Quest of the Ava­tar“, das bereits 1985 erschien. Auch „Alpha Pro­to­col“ (2010) und „80 Days“ (2014) wer­den als Geheim­tipps genannt. Und so ver­schie­den die Bewer­tun­gen der Spie­ler sind, so viel­fäl­tig sind auch die Set­tings der Spiele. Alleine die genann­ten Titel spie­len in fan­tas­ti­schen Mit­tel­al­ter­wel­ten mit Zau­be­rern und Wie­der­gän­gern, der Anfangs­zeit des Chris­ten­tums oder auch dem heu­ti­gen Saudi-Arabien.

Die Dis­kus­sio­nen und unter­schied­li­chen Bewer­tun­gen der Titel ver­deut­li­chen, worum es den Spie­lern vor allem geht: Sie wol­len Ein­fluss auf eine gut insze­nierte Welt neh­men und das Schick­sal inter­es­san­ter, tief­grün­di­ger Cha­rak­tere bestim­men. Je höher dabei der eigene Ein­fluss, desto bes­ser gefällt das Spiel. Die Fas­zi­na­tion besteht darin, eine Art fil­mi­sche Geschichte nicht nur zu kon­su­mie­ren, son­dern Teil von ihr wer­den und sie ver­än­dern zu kön­nen. Einige die­ser ent­schei­dungs­ba­sier­ten Spiele wer­den die­sem Wunsch bes­ser gerecht als andere. Doch an Qua­li­tät scheint es die­sem Genre ebenso wenig zu man­geln wie an Quantität.

Um euch einen klei­nen Ein­blick in diese Art des hand­lungs- und ent­schei­dungs­ba­sier­ten Spiel­felds zu geben, wer­den wir euch in unse­rer Spiel­straße einige Titel vor­stel­len, die uns beson­ders über­zeu­gen konn­ten. In die­sem Sinne: Las­set die Spiele beginnen!

Illus­tra­tio­nen: Sei­ten­künst­ler Aaron

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3 comments

Caecilia 6. Februar 2017 - 20:04

Vie­len Dank für den gelun­gen Ein­stieg in ein (wie ich finde) sehr kom­ple­xes Thema! So „uncool“ ist das mit dem Sims gar nicht, ich muss geste­hen, dass ich mich frü­her auch unter den „Sims-Spie­lern“ pro­biert habe. 😉 (An mei­ner Geduld und der Doof­heit eini­ger Sims bin ich dann doch aber kläg­lich geschei­tert 😀 Viel­leicht war es aber auch die grot­tige PS2-Vari­ante, die mir den Ein­stieg nicht gerade erleich­tert hat. )

Ich selbst komme aus dem Bereich Game Stu­dies und habe da so meine Pro­bleme von „Inter­ak­ti­vi­tät“ oder „Ent­schei­dungs­frei­heit“ zu spre­chen, da Video­spiele schon aus ihrer fest pro­gram­mier­ten Struk­tur her­aus eben doch sehr ein­ge­schränkt sind. Die meis­ten Spiele, die mir eine rie­sige Ent­schei­dungs­frei­heit vor­qau­keln woll­ten (ins­be­son­dere Inter­ak­tive Filme) haben mich da oft eher sehr ent­täuscht – auch wenn ich „Heavy Rain“ sehr mochte. (Viel­leicht bin ich da aber mitt­ler­weile auch ein­fach zu verkopft.)

Dazu eine Frage: Wo denkst du fängt denn ein ent­schei­dungs­ba­sier­tes Spiel an? Muss das etwas sein, in dem der Spie­ler direkt den Hand­lungs­ver­lauf beein­flus­sen kann? Kön­nen das auch spie­le­ri­sche Ent­schei­dun­gen sein? Muss der Spie­ler unter­schied­li­che Enden frei­schal­ten kön­nen? Ich finde das nur so inter­es­sant, weil ja mitt­ler­weile alle auf die­sen „Ende A, B, C...“-Zug auf­ge­sprun­gen sind. Bei vie­len hat es aber oft nicht mal was Ent­schei­dun­gen zu tun. Oder da wo Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den, haben die nicht mal einen gro­ßen Ein­fluss auf den wei­te­ren Ver­lauf. („Bey­ond Two Souls“ war da für mich eine große Enttäuschung.)

Aber wie gesagt: Ich glaube, ich ver­kopfe da schon wie­der viel zu viel :/ Im Grunde soll der Arti­kel ja sicher­lich als Ein­stieg die­nen – und das ist dir wirk­lich gut gelun­gen. Aber viel­leicht hast du ja spä­ter noch­mal Lust, das Thema in einem ande­ren Arti­kel zu ver­tie­fen. Viele Mög­lich­kei­ten bie­tet es ja zumindest.
Liebe Grüße,
Caecilia

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Erzähldetektivin Annette 8. Februar 2017 - 15:28

Liebe Cae­ci­lia,

vie­len Dank für dei­nen aus­führ­li­chen Kom­men­tar! Deine Gedan­ken und Anmer­kun­gen sind sehr inter­es­sant und ich würde sie nicht als „ver­kopft“ bezeich­nen. Eher als kri­tisch-inter­es­siert – und das ist super! 🙂

Der Text soll in der Tat vor allem als Ein­stieg fun­gie­ren. Wir wol­len einige Werke, die unter das Label „ent­schei­dungs­ba­sierte Spiele“ fal­len, vor­stel­len. Aller­dings wäre eine kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Thema sinn­voll und gut. 

Denn ich stimme dir zu: Vie­les, was als „inter­ak­tiv“ oder „ent­schei­dungs­ba­siert“ ange­prie­sen wird, ist es nur bedingt. Bei „Bey­ond Two Souls“ habe ich das auch ganz stark gespürt – das Spiel konnte aus mei­ner Sicht mit „Heavy Rain“ nicht mit­hal­ten. Aber viel­leicht liegt es auch nur an der ver­meint­lich rie­si­gen Ent­schei­dung am Ende – denn je nach dem, wen man vor­her so geret­tet hat, gibt es ja doch ver­schie­dene Mög­lich­kei­ten, wie die Geschichte aus­ge­hen kann.

Auch bei „Life is strange“ war es mein größ­ter Kri­tik­punkt, dass die Ent­schei­dun­gen am Ende nich­tig gewe­sen sind, weil es immer auf die selbe letzte, große Ent­we­der-Oder-Ent­schei­dung hinausläuft.

Ich denke den­noch, dass die genann­ten Spiele zurecht als „inter­ak­tiv“ bezeich­net wer­den kön­nen. Denn als Spie­ler trifft man viele Ent­schei­dun­gen und diese beein­flus­sen zumin­dest die wei­te­ren Sequen­zen, die man spielt. Inwie­weit sie den tat­säch­li­chen Aus­gang der Geschichte beein­flus­sen, ist hin­ge­gen sehr unter­schied­lich. Zumin­dest mein Spiel­spaß wird rück­bli­ckend gemin­dert, wenn ich am Ende denke: „Naja, im Grunde war ja alles umsonst.“ Aber das ist viel­leicht auch Geschmacks­sa­che und ich da bin ich viel­leicht auch zu „ver­kopft“ 😀

Auf jeden Fall werde ich über einen detail­lier­te­ren Text zum Thema nach­den­ken, vie­len Dank für die Anregung!

Liebe Grüße,
Annette

Reply
Ende? Bitte alternativ! – Bücherstadt Kurier 23. Dezember 2017 - 13:00

[…] So schön fass­te die Kol­le­gin Er­zähl­de­tek­ti­vin An­net­te in ih­rem ein­lei­ten­den Bei­trag zu der Rei­he um die ent­schei­dungs­ba­sier­ten Spie­le zu­sam­men, was Spie­ler an eben […]

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