„Er ist gerade in der Pubertät!“

by Zeichensetzerin Alexa

Wie wer­den Ado­les­zenz und Disa­bi­lity im Jugend­film dar­ge­stellt? Und wel­che Nor­men ver­mit­teln die dar­ge­stell­ten Sze­nen? Zei­chen­set­ze­rin Alexa hat sich näher mit die­sem Thema beschäf­tigt und zwei Buch­ver­fil­mun­gen als Bei­spiele her­an­ge­zo­gen: „Crazy“ von Ben­ja­min Lebert und „Umweg nach Hause“ von Jona­than Evi­son. Ein Gedankenkrümel.

Bumm, bumm, utz, utz – blin­kende Lich­ter, viel nackte Haut, „Sex, Drugs, Rock’n’Roll“. Nicht sel­ten ent­hal­ten Jugend­filme Sze­nen, in denen Par­tys dar­ge­stellt wer­den. Man denke da an „Ame­ri­can Pie“, „Girls Club – Vor­sicht bis­sig!“, „Ein­fach zu haben“, „Fack ju Göhte“ oder „Nick und Nora – Sound­track einer Nacht“. Hier fließt der Alko­hol, das jeweils andere Geschlecht ist das Ziel des Abends – alles, was zuvor ver­bo­ten schien, ist jetzt beson­ders span­nend. Moment. Ist es das? Was ver­mit­teln diese Bil­der den Zuschau­en­den? Inwie­weit bil­den die dar­ge­stell­ten Sze­nen die Rea­li­tät ab? Sind diese Sze­nen in Fil­men inte­griert, weil sich Jugend­li­che in der Puber­tät grund­sätz­lich oder zumin­dest vor­wie­gend mit sol­chen The­men beschäf­ti­gen oder ver­hal­ten sich Jugend­li­che ent­spre­chend der ver­mit­tel­ten Bilder?

Der „Pubertäts“-Stempel

„Er ist gerade in der Puber­tät!“, wird gerne als Begrün­dung für jedes „unan­ge­brachte“ Ver­hal­ten ver­wen­det, wenn man sich in einer „puber­tä­ren Phase“ befin­det. Es reicht nicht, dass sich in die­ser Phase der Kör­per ver­än­dert, alles pein­lich und selt­sam ist – die Gesell­schaft (die Eltern, die Leh­rer?) drückt einem und einer auch noch einen „Pubertäts“-Stempel auf. Plötz­lich wirkt es, als müsse man sich der Lebens­phase „ent­spre­chend“ ver­hal­ten: Ver­mit­telt der Film, Jugend­li­che seien nur an Par­tys und Alko­hol inter­es­siert, wird der Anschein erweckt, es gelte für alle. Erzieht diese Art von Jugend­film die Eltern mit, glau­ben sie, ihren Kin­dern stünde eine Phase bevor, die jener in den Medien dar­ge­stell­ten ähnelt.

„Er ist gerade in der Puber­tät!“, heißt es dann wie­der – und auf ein­mal ist da die­ses Gefühl der Beob­ach­tung: Wie ver­halte ich mich, um einen sol­chen Satz nicht hören zu müs­sen? Wann ist diese Phase, in der jeder Schritt abge­wo­gen wer­den muss, end­lich vor­bei? Warum muss man sich für alles, was man tut, schä­men? Weil es erwar­tet wird? Weil es eben so ist – in der Pubertät?

The­men, Inter­es­sen, Prioritäten

Alles ist selt­sam. Und alle sind am Rum­pro­bie­ren und auf der Suche nach sich selbst. Da stellt sich die Frage, ob das Thema Behin­de­rung nicht eine wei­tere Art von Anders­sein dar­stellt; viel mehr als in ande­ren Pha­sen des Lebens. Ein Film, der beide Aspekte – Ado­les­zenz und Disa­bi­lity – ver­bin­det, ist „Crazy“, nach dem gleich­na­mi­gen, auto­bio­gra­fi­schen Roman von Ben­ja­min Lebert. Geschrie­ben hat der Autor das Buch im Alter von 16 Jah­ren. Seine Erfah­run­gen als Halb­sei­ten­spas­ti­ker flie­ßen in sein Werk ein, wie jene, die er im Inter­nat gemacht hat.

„Ohne Abitur bist du nichts auf die­ser Welt“, sagt sein Vater. Die­ses Gefühl – Schule sei das ein­zig wich­tige auf der Welt – ver­mit­teln Ben­ja­mins Leh­rer, indem sie ihren Schü­lern mit beson­de­rer Strenge begeg­nen, aber auch genau das aus­spre­chen. So wisse Ben­ja­min angeb­lich nicht, was für ihn wirk­lich „wich­tig ist“. (Wohl aber der alte Leh­rer?) Dass in die­sem Alter andere The­men als Schule im Vor­der­grund ste­hen (siehe oben), scheint nicht der Rede wert zu sein – weder im Film noch im rea­len Leben. Ist hier­bei nicht ein Wider­spruch in sich? Einer­seits wird Jugend­li­chen ein „Pubertäts“-Stempel auf­ge­drückt, ande­rer­seits wird von ihnen erwar­tet, dass sie sich die­sem gegen­sätz­lich ver­hal­ten. Sind nicht gerade die Eltern und Leh­rer so der­art abge­schreckt vom puber­tä­ren Alter, dass sie die­je­ni­gen sind, die das zu erwar­tende Ver­hal­ten erst auslösen?

Selbst- und Fremdwahrnehmung

„Sowas machen Jungs in mei­nem Alter“, sagt Ben­ja­min an einer Stelle und es wirkt, als müsse er genauso han­deln. Auf der ande­ren Seite betrach­tet er sich als „anders“; gleich zu Beginn stellt er sich vor der neuen Klasse als „Krüp­pel“ vor und sieht dabei sehr bedrückt und geknickt aus. Seine Schwes­ter bezeich­net diese Ver­hal­tens­art in einer spä­te­ren Szene als Selbstmitleid.

Ben­ja­mins Selbst­bild scheint jeden­falls keins vol­ler Ver­trauen und Mut zu sein; was sich im Laufe des Films – ange­trie­ben von der gro­ßen Liebe – ändert. Oft ist er der­je­nige, der im Schat­ten steht. Das wird anhand von fil­mi­schen Mit­teln anschau­lich dar­ge­stellt: So steht Ben­ja­min bei­spiels­weise außer­halb der Tanz­flä­che, alleine, oder ist durch das Glas von dem Ort des Gesche­hens getrennt. An die­ser Stelle ist er der Außen­sei­ter, der zuse­hen muss, wie sich sein bes­ter Freund Janosch an Malen, in die er ver­liebt ist, ran­macht und sie schluss­end­lich küsst. Wie soll Ben­ja­min dar­auf reagie­ren? Er ist ver­zwei­felt. Hier nimmt sein man­geln­des Selbst­ver­trauen über­hand, er wird wütend, beginnt zu wei­nen – und sich auf­zu­füh­ren wie jemand, der nicht weiß, wie er seine Gefühle kon­trol­lie­ren soll.

„Die Behin­de­rung macht es manch­mal echt schwer“, sagt Malen in sei­ner Vor­stel­lung. Es ist seine Vor­stel­lung von dem, was andere über ihn und seine Behin­de­rung den­ken. Ein beson­ders gro­ßes Pro­blem scheint sie im All­tag aber nicht zu sein. In einer Szene braucht er beim Trep­pen­stei­gen eine Pause. Beim Bock­sprin­gen im Sport­un­ter­rich klappt es auch nicht wie bei sei­nen Mit­schü­lern. Dar­über hin­aus gibt es jedoch keine Ein­schrän­kun­gen. Mehr als beim Film rückt die Behin­de­rung im Buch in den Hin­ter­grund. Zwi­schen­zei­tig kann man beim Lesen auch mal ver­ges­sen, dass der Prot­ago­nist eine Behin­de­rung hat. Wich­ti­ger als diese sind die The­men, die Ben­ja­min beschäf­ti­gen: Liebe, Freund­schaft, Eifer­sucht. Diese Dinge bedin­gen einander.

Rol­len­kon­stel­la­tio­nen

Ben­ja­min ist kei­nes­falls einer von den „typi­schen“ Jugend­li­chen, die sich nur gut und cool füh­len kön­nen, wenn sie rau­chen und Alko­hol trin­ken. Diese Rolle über­nimmt sein Freund Janosch. Wie so oft in Fil­men, sind klare Rol­len­kon­stel­la­tio­nen zu erken­nen: Es muss immer einen Coo­len geben, einen Dicken, einen Schlauen, einen Außen­sei­ter, einen Spaß­vo­gel. Diese Kon­stel­la­tion fin­det sich zum Teil auch im Film „Crazy“ wie­der: Janosch ist der Coole, Kugli ist der dicke Freund, der zugleich der beste Kicker­spie­ler ist, Flo­rian „wird von allen nur Mäd­chen genannt“, „der dünne Felix war­tet auf den Durch­bruch als Musi­ker“, Troy ist wohl der Außen­sei­ter der Gruppe, „oft sagt er tage­lang kein ein­zi­ges Wort“.

Wel­che Rolle über­nimmt Ben­ja­min inner­halb die­ser Gruppe? Anfangs ist er noch der Neue, der sich wünscht, ganz „nor­mal“ behan­delt zu wer­den, „wie alle ande­ren auch.“ Das wird er dann auch. Nach dem „Ritual“ ist er zunächst inner­lich ver­letzt und ver­zwei­felt. Als er sich jedoch gegen das Tele­fo­nat mit sei­ner Mut­ter ent­schei­det, ist er in der Gruppe auf­ge­nom­men. Mit die­ser beginnt er, all die Erfah­run­gen eines „typi­schen“ Jugend­li­chen zu machen, aber so rich­tig in diese Rolle scheint er nicht zu passen.

Umgang mit Behinderung

Ben­ja­mins Selbst­bild und sein Umgang mit der Behin­de­rung spie­geln sich in eini­gen Sze­nen im Umfeld wider: Die Mut­ter behü­tet ihn sehr, der Sport­leh­rer lobt ihn, als er beim Bock­sprin­gen – statt zu sprin­gen – dar­über klet­tert. Im Gegen­satz hierzu ver­hal­ten sich seine Mit­schü­ler so, als sei die Behin­de­rung etwas völ­lig Nor­ma­les. Seine Schwes­ter glaubt, Ben­ja­min würde sie nur als Aus­rede für alles neh­men, und Kugli besteht dar­auf, dass es beim „Keks­wich­sen“ keine Son­der­be­hand­lung gibt. Ent­we­der machen alle mit oder kei­ner – und die Regeln gel­ten aus­nahms­los für alle.

Über Ben­ja­mins Behin­de­rung wird sowohl im Buch als auch im Film offen gespro­chen. Es ist kein Tabu-Thema, weder für Ben­ja­min selbst noch für seine Umwelt. Ähn­lich ver­hält es sich im Film „Umweg nach Hause“, der eben­falls auf einem Roman basiert. Anders als bei „Crazy“ hat der Autor Jona­than Evi­son keine auto­bio­gra­fi­schen Aspekte in sei­nem Werk ver­ar­bei­tet – zumin­dest keine den Lesern bezie­hungs­weise Zuschau­ern bekannten.

Ver­packt ist die Geschichte um einen behin­der­ten Jugend­li­chen, der wegen einer Duchenne Mus­kel­dys­tro­phie im Roll­stuhl sitzt, in einem etwas ande­ren Kon­text. Hier ist neben dem Jugend­li­chen namens Tre­vor ein Erwach­se­ner, Ben, der Prot­ago­nist. Weder Freunde noch Schule spie­len (zunächst) eine große Rolle. Tre­vor scheint genauso alt zu sein wie Ben­ja­min in „Crazy“, geht mit sei­ner Behin­de­rung aller­dings etwas anders um: kein Selbst­mit­leid, dafür eine Schutz­mauer, bestehend aus Zynis­mus und Sarkasmus.

Eigent­lich soll diese Ver­hal­tens­weise, die eine Mischung aus „puber­tä­rer Phase“ und den Umgang mit sei­ner Behin­de­rung dar­stellt, auf Ben abschre­ckend wir­ken. Doch die­ser ist inner­lich so kaputt, dass ihn nichts mehr trifft. Was in die­sem Film sehr anschau­lich dar­ge­stellt wird, ist die Bezie­hung zweier Men­schen, die ein Päck­chen zu tra­gen haben: Tre­vor muss damit leben, nie­mals wie­der lau­fen zu kön­nen – sein Pro­blem ist daher ein kör­per­li­ches – und Ben muss seine Ver­gan­gen­heit ver­ar­bei­ten. Seit­dem seine zwei Kin­der bei einem Auto­un­fall ums Leben gekom­men sind und ihn dar­auf­hin seine Frau ver­las­sen hat, ist er see­lisch am Ende. Wer also küm­mert sich in die­sem Film um wen? Ist es der im Roll­stuhl sit­zende Jugend­li­che, der Ben eine Auf­gabe und damit etwas Lebens­sinn gibt? Oder küm­mert sich Ben als Pfle­ger um Tre­vor, damit die­ser sei­nen All­tag bewäl­ti­gen kann?

Kein Tabu-Thema – für Jugendliche

Auch in „Umweg nach Hause“ ist die Behin­de­rung kein Tabu-Thema. Aller­dings fällt auf, dass Ben etwas zurück­hal­ten­der mit sei­nen Fra­gen bezüg­lich der Behin­de­rung ist als Dot, die Tre­vor direkt dar­auf anspricht, als sie ins Gespräch kom­men. Auf ihre direk­ten Fra­gen erhält sie direkte Ant­wor­ten. Es ist Ben, der das Gespräch unter­bricht und auf die Spei­se­karte lenkt. Den Jugend­li­chen scheint die­ses Thema kei­nes­falls pein­lich zu sein – mög­li­cher­weise ist gerade die­ser offene Umgang erwünscht, um keine aus­ge­schwie­ge­nen Pein­lich­kei­ten zwi­schen sich zu haben.

Alles in allem wirkt „Umweg nach Hause“ erwach­se­ner als „Crazy“, obwohl es in bei­den Fil­men um einen Jugend­li­chen geht, der mit einer Behin­de­rung lebt. Wäh­rend „Crazy“ jedoch die „typi­schen“ Merk­male eines Jugend­films (siehe oben) auf­weist, ist „Umweg nach Hause“ nicht dar­auf aus­ge­rich­tet, den Zuschau­ern zu zei­gen, wie sich Jugend­li­che auf Par­tys ver­hal­ten. Hier ist der Schwer­punkt anders gelegt – und zwar auf einer tie­fe­ren Ebene der Ver­gleich von psy­chi­schen und phy­si­schen Pro­ble­men, der Bezie­hung zwi­schen einem Jugend­li­chen und einem Erwach­se­nen, der zuneh­mend eine vor­her nicht vor­han­dene Vater­rolle einnimmt.

Der „Pubertäts-Behinderten“-Stempel

Ist „Umweg nach Hause“ dann noch ein Jugend­film? Oder bedient die­ser Film nur einige Ele­mente eines Jugend­films, um eine brei­tere Masse anzu­spre­chen? Die Frage, inwie­weit Puber­tät und Behin­de­rung zusam­men­spie­len und was davon der grö­ßere Aus­lö­ser für das Ver­hal­ten des Prot­ago­nis­ten ist, ist in bei­den Fil­men gegeben.

„Er ist gerade in der Puber­tät!“ ist wohl ein Satz, der ver­mut­lich im Zusam­men­hang mit Behin­de­rung nicht so schnell fal­len würde, sei es aus Rück­sicht oder Unsi­cher­heit bezüg­lich des wah­ren Ver­hal­tens­aus­lö­sers. Hier wird nicht nur der „Pubertäts“-Stempel auf­ge­drückt, son­dern – zumin­dest sei­tens der Erwach­se­nen – der „Pubertäts-Behinderten“-Stempel. Der Umgang zwi­schen Gleich­alt­ri­gen ist da, wie die Filme „Crazy“ und „Umweg nach Hause“ zei­gen, ein anderer.

Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

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