Erinnerungen ... an Weihnachten 1944 #litadvent

by Bücherstadt Kurier

Jetzt ist er da, der Hei­lige Abend. Doch bis zum Abend ist es noch eine lange Zeit. Es ist frü­her Mor­gen und die Stun­den des Tages wer­den sich wie­der zie­hen wie Gummi. Eine end­lose Zeit, bis das Christ­kind kommt. An ande­ren Tagen ver­geht die Zeit viel schneller.

Ich denke, ich tue das, was ich jeden Tag tue. So stapfe ich durch den Schnee mit mei­nem schwe­ren Eimer vol­ler Kör­ner und füt­tere erst ein­mal die Gänse und dann die Hüh­ner. Auf dem Rück­weg nehme ich dann die Eier mit ins Haus. Ich muss mich auf­wär­men und gehe des­halb in die Knechts­stube. Dort ist es schön warm.

Die große Tür zur Küche steht offen und dort bul­lert der große Herd. Mich beob­ach­tet nie­mand. Alle haben zu tun. „Dorli, wenn du Früh­stück willst, komm in die Küche. Wir haben viel Arbeit. Heute Mit­tag gibt es Apfel­stru­del, wie jedes Weihnachten.“

Nun kom­men aus der Nach­bar­schaft Frauen zum Hel­fen. Sie alle sit­zen auf den Bän­ken rund um das Zim­mer und jede hat ein Mes­ser­chen mit­ge­bracht. Die Körbe mit den Äpfeln wer­den her­ein­ge­bracht und schon geht das Geschnip­pel los. Die Bäu­rin und meine Mut­ter kne­ten inzwi­schen den Stru­del­teig. „Dorli, geh‘ in die Küche und pass auf, dass die But­ter nicht zu braun wird. Und wasch die Rosi­nen.“ Das wird sicher­lich ein schö­ner Tag, ich esse gerne Apfelstrudel.

Die Bäu­rin und meine Mut­ter rol­len jetzt den Teig aus und begin­nen an ihm zu zie­hen und zu zer­ren, bis der Teig hauch­dünn ist und wie eine Tisch­de­cke von dem gro­ßen Tisch in der Knecht­stube her­un­ter­hängt. Ich freue mich auf das Mit­tag­essen. Die Nach­ba­rin­nen schnip­peln wei­ter ihre Äpfel und sin­gen Weih­nachts­lie­der. Mir wird dabei ganz fromm zu Mute. Der große Back­ofen ist schon vor einer Stunde ange­heizt wor­den, die But­ter ist genug geläu­tert und die Rosi­nen sind trocken.

Jetzt wird es still im Zim­mer, denn das Geheim­nis eines guten Apfel­stru­dels ist die rich­tige Rei­hen­folge der Zuta­ten. Die Zwil­lings­bu­ben der Magd gehen mit zwei gro­ßen Krü­gen in den Kel­ler, um den Birn­schnaps zu holen. Alle Hel­fe­rin­nen tes­ten nun den Schnaps, ob es auch wirk­lich der Rich­tige ist. Nach dem zwei­ten Gläs­chen nicken sie ein­stim­mig mit ihren Köp­fen und nun kön­nen die Sem­mel­brö­sel und die But­ter den Anfang machen. Zimt und Zucker noch dabei und dann die Berge von geschnip­pel­ten Äpfeln. Halt, der Birnschnaps!

Und dann sind die Exper­tin­nen am Zuge. Der Stru­del muss gerollt wer­den, ohne dass der Teig reißt. Da gucke ich gern zu. „Dorli, sag‘ Bescheid, wenn du irgendwo eine Lücke siehst. Hol noch mal die But­ter!“ Die gro­ßen Ble­che lie­gen schon bereit. Der Stress beginnt. Meine Mut­ter schwitzt unter der Anstren­gung. Eine Rolle ist schwer und Mut­ter ruft: „Schnei­den!“ Schon stür­zen zwei Hel­fe­rin­nen her­bei und schei­den die Rolle ab. Die Enden wer­den ver­schlos­sen und ab auf das Blech. Nun kommt die Rolle zwei, dann drei und vier. Alle wer­den in den Back­ofen geschossen.

Die Tür geht zu und nun war­ten wir auf den herr­li­chen Duft vom Apfel­stru­del. Küche und Knechts­stube sind jetzt leer und wer­den für das Essen her­ge­rich­tet. „Dorli, gehe zum Schus­ter und zum Bie­nen­mann und lade sie zum Essen ein! Beeile dich, bald ist Hei­lig Abend! Und wenn du das Christ­kind siehst, lade es auch ein – wir haben genug Apfel­stru­del für alle!“

Frohe Weih­nach­ten!

Text: Doro­thea Ender
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

Ein Bei­trag zum Spe­cial #lit­ad­vent. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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