Familie in Bruchstücken

by Worteweberin Annika

Was ist eigent­lich Fami­lie? Sind es nur die leib­li­chen Eltern und Geschwis­ter? Sind es die Men­schen, mit denen man auf­wächst? Die, die man sich als Erwach­se­ner aus­sucht? Um diese Fra­gen geht es in „Was alles war“, dem neuen Roman von Annette Min­gels. Worte­we­be­rin Annika hat ihn gelesen.

Susa ist Ende 30 und wurde als Kind adop­tiert. Sie fühlte sich damit immer glück­lich und liebt ihre Adop­tiv­fa­mi­lie. Jetzt aber gerät alles durch­ein­an­der und Susa wird plötz­lich bewusst, dass „Fami­lie“ vor allem eins ist: ein Kon­strukt. Das erkennt sie, als ihre leib­li­che Mut­ter auf­taucht und von drei wei­te­ren Kin­dern erzählt, Susas Halbgeschwistern.
Auch das sichere Gerüst der Adop­tiv­fa­mi­lie wankt, als der Adop­tiv­va­ter erkrankt und stirbt. Und dann tritt auch noch Hen­ryk in Susas Leben. Er hei­ra­tet sie und bringt zwei Töch­ter mit in die Ehe. Leve wird gebo­ren, Susas heiß gelieb­ter „eige­ner“ Sohn. Das Gefühl, zu zer­bre­chen, die Rich­tung im Leben ver­lo­ren zu haben, nimmt den­noch zu: Susa muss sich fra­gen, wie all die Bruch­stü­cke ihrer Fami­lie ihr Sicher­heit geben kön­nen und wen sie in ihrem Leben eigent­lich wirk­lich braucht:

„Sie ist zer­split­tert, wie kann sie all diese Stü­cke je wie­der zusam­men­set­zen? Und fehlt da nicht eines? Ist da nicht eine Leer­stelle, die, wenn sie nur erst gefüllt wäre, das Bild ver­voll­stän­di­gen würde – siehe da: Das war es also, was fehlte, und jetzt, wun­der­bar geord­net, liegt es vor ihr: Das bin ich.“

Wir haben es hier nicht mit einer gänz­lich frei erfun­de­nen Geschichte zu tun: Tat­säch­lich ist auch die Autorin bei Adop­tiv­el­tern auf­ge­wach­sen, auch sie lernte erst spät die leib­li­che Mut­ter und die Halb­ge­schwis­ter ken­nen. Gut mög­lich, dass Min­gels die Dra­men des All­tags auch des­halb so unge­schönt und emo­tio­nal schil­dern kann, weil sie weiß, wovon sie spricht.

Der Roman lässt viel Raum für Inter­pre­ta­tio­nen und mahnt eine eigene Hal­tung des Lesers gera­dezu an. Aus wech­seln­den Erzähl­per­spek­ti­ven wirft Min­gels einen Blick auf Susas Inne­res. In einer Situa­tion, in der die Prot­ago­nis­tin für nie­man­den mehr erreich­bar scheint, geht auch die Erzähl­stimme auf Distanz. Die Spra­che des Romans ist klar und sehr berührend:

„Er nimmt seine Hand von mei­ner, und wir trei­ben aus­ein­an­der wie Wel­len, die kurz auf­ein­an­der­tra­fen, ihre Flu­ten mit­ein­an­der misch­ten. Gut mög­lich, dass das noch ein­mal pas­siert und immer wie­der: dass wir zuein­an­der­fin­den. Das ist nicht viel, denke ich, aber das ist doch etwas.“

Annette Min­gels lotet in „Was alles war“ die Spiel­ar­ten von „Fami­lie“ aus. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Reise: in Susas Inne­res, aber auch ganz real nach Ame­rika, wo Susa auf die Suche nach ihrem leib­li­chen Vater geht. Denn zumin­dest diese Hoff­nung besteht für Susa: dass es hilft, die eige­nen Wur­zeln zu ent­de­cken, wenn man im Leben gerade den Wald vor lau­ter Bäu­men nicht sieht.

Was alles war. Annette Min­gels. Knaus. 2017.

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