„Flower“: Durch den Traum einer Blume fliegen #BKUmwelt

by Bücherstadt Kurier

Ach­tung, die­ser Text ent­hält Spoiler!

Das Spiel „Flower“ des Stu­dios that­game­com­pany ist so vie­les: Kunst, Ent­span­nung und ein Plä­doyer für die Schön­heit der Natur. Für Stadt­be­su­cher Thilo ist es eines der bes­ten Spiele überhaupt.

Ich umgebe mich gerne ein wenig mit der Aura des Kri­ti­kers. Das pas­siert auch unge­wollt, weil Men­schen hier­zu­lande immer fra­gen, was man denn „mache“ und dann erzähle ich eben – mit einem Lächeln, das ich mir nicht ver­knei­fen kann –, dass ich Kri­ti­ker sei. Oft werde ich dann mit der Frage nach mei­nen Favou­rites kon­fron­tiert: Lieb­lings­buch, Lieb­lings­film, Thea­ter­high­lights und so wei­ter. Spon­tan würde mir auf diese Frage nichts ein­fal­len, des­we­gen über­lege ich in stil­len Momen­ten, wel­che Ant­wor­ten ich geben möchte, bei denen mir im Nach­hin­ein nicht doch etwas Bes­se­res ein­fällt. Darum rede ich dann von einem selt­sa­men Buch über ein Laby­rinth in der Wand, einer zehn­stün­di­gen Thea­teres­ka­pade oder einem Kom­po­nis­ten, der das Ver­klin­gen kom­po­nierte (ich könnte meine Ant­wor­ten mal überarbeiten).

Selbst­ver­ständ­lich habe ich mir auf die Frage nach mei­nem Lieb­lings­vi­deo­spiel eben­falls Ant­wor­ten zurecht­ge­legt, die aller­dings schon wie­der etwas in die Jahre gekom­men sein könn­ten und auf ein Fai­ble für eine ganz eigene Kunst­er­fah­rung hin­wei­sen. Eines die­ser Spiele ist das 2009 ver­öf­fent­lichte „Flower“, das von Jenova Chen und that­game­com­pany ent­wi­ckelt wurde.

Wenn mein Gegen­über dann fragt, warum, ant­worte ich immer mit einer rhe­to­ri­schen Gegen­frage: „Kennst du ein ande­res Spiel, in dem du ein Blü­ten­blatt steu­erst?“ Allein diese Ein­zig­ar­tig­keit macht den Titel für mich zu etwas Besonderem.

Manch­mal erwähne ich auch den Fakt, dass „Flower“ als eines von nur zwei Spie­len in die Dau­er­aus­stel­lung des Smit­h­so­nian Ame­ri­can Art Museum in Washing­ton DC auf­ge­nom­men wurde. Damit konnte ich sogar in der Kul­tur­re­dak­tion des Deutsch­land­funks, als es um die Bezie­hung von Video­spie­len und der soge­nann­ten Hoch­kul­tur ging, für Erstau­nen und Inter­esse sorgen.

Mich begeis­tert an dem Spiel jedoch vor allem, wie schnell und inten­siv es mich gefan­gen nimmt und in den Bann zieht. Dass es ein Kunst­werk ist, das durch mich ver­voll­stän­digt wird (das ist in mei­nen Wor­ten die Begrün­dung des Smit­h­so­nian für die Auf­nahme). Dass es mich kom­plett ent­spannt und trotz­dem ein Spiel im klas­sischs­ten Sinne ist, das auch Per­for­mance ver­langt, Level­de­sign und ein Ziel hat.

Ich ver­su­che ein­mal das Spiel und meine erste Begeg­nung nachzuzeichnen.

Es beginnt mit einem Bild, das ich schon lange nicht mehr kenne: Auf dem Fens­ter­brett steht ein Blu­men­topf, mit dem Men­schen in der Stadt ver­su­chen, Natur und Leben in ihre Behau­sung zu brin­gen. Die kleine Pflanze lässt ihren Kopf hän­gen, viel­leicht wegen der bedrü­cken­den Aus­sicht grauer Mau­ern. Ein selt­sa­mes Rau­schen ist zu hören, das mög­li­cher­weise von einer Lüf­tung oder einem Kühl­schrank stam­men könnte. Ich bewege mei­nen Con­trol­ler ein wenig und die Kamera fährt an den nach unten hän­gen­den und von einem leich­ten Leuch­ten umge­be­nen Blü­ten­kopf heran.

Nach­dem ich eine Taste gedrückt habe, erklin­gen ver­ein­zelte Gitar­ren­klänge, die dann von Oboen­tö­nen abge­löst wer­den. Ich sehe eine Stadt vol­ler gleich­för­mi­ger Häu­ser, zwi­schen denen sich auf einer brei­ten Straße bei­nahe unauf­hör­lich Ver­kehr bewegt. Stra­ßen­lärm über­la­gert die sanfte Musik. Dun­kel und wie­der Gitarrenklänge.

Ich bin auf einer grü­nen Wiese.

Mit dem erneu­ten Drü­cken einer Taste auf dem Con­trol­ler und einem hel­len Glo­cken­ton löst sich ein Blü­ten­blatt von einer gel­ben Blume, die ein­sam auf der Wiese steht. Ich neige den Con­trol­ler nach rechts und links, um das Blü­ten­blatt, um mich zu bewe­gen. Je nach Nei­gung kommt der Wind von rechts oder links, schleu­dert das Blatt in die Höhe oder lässt es nach unten glei­ten. Ich wiege mich im Wind wie die Gras­halme und die Blu­men. Ich werde zum Wind, der durch die gras­be­wach­se­nen Hügel weht. Ich muss nur eine Taste drü­cken und werde schnel­ler und rau­sche auf eine wei­tere Blume zu, von der sich erneut ein Blü­ten­blatt löst, sodass nun zwei davon durch die Luft flie­gen. Mit jeder wei­te­ren Blüte, die sich durch mein Anstup­sen öff­net, ertönt ein wei­te­rer Glo­cken­klang und mischt sich in die Musik von Vin­cent Dia­manté, die mit Größe des Blü­ten­blatt­schweifs immer kom­ple­xer wird. Ich, der Wind, mache die Musik.

Wie Fuchur, der Glücks­dra­che, zieht mein Blü­ten­blatt­schweif durch den Him­mel. Dann erschei­nen auf einem ver­trock­ne­ten Stück drei rote Blu­men. Ich stupse auch sie an und plötz­lich wird das Gras wie­der grün. So treibe ich über die Wiese und erwe­cke die abge­stor­be­nen Stel­len wie­der zu Leben und in mir stellt sich die Begeis­te­rung ein, die Kin­der viel­leicht beim Aus­ma­len erle­ben. Es ist die­ses wun­der­bare Gefühl, etwas zu ver­voll­stän­di­gen. Schließ­lich komme ich zu einem Hain, auf dem ein ver­dorr­ter Baum steht. Wie­der stupse ich Blu­men an, doch die weite, gelb­braune Flä­che wird nur fleck­chen­weise grün. Ein Wir­bel erscheint, in den ich hin­ein­fliege. Eine Blume erscheint. Die Blume, die auf dem Fens­ter­brett stand und von der eine Welle aus­geht, die alles wie­der begrünt und den Baum zum Aus­trei­ben bringt.

Ich erin­nere mich noch, dass ich sofort auf­ge­hört habe zu spie­len. Ich habe mich zu erho­ben gefühlt, dass sich das nicht mehr stei­gern konnte. Daher wollte ich nicht alle Level auf ein­mal spie­len, son­dern nur eines am Tag, um die Begeis­te­rung so lange wie mög­lich zu strecken.

Ein zwei­ter Blu­men­topf steht auf dem Fens­ter­brett, in dem eine kleine rote Blume wächst. Zu Kla­vier­ak­kor­den und lan­gen, tie­fen Flö­ten­tö­nen sehe ich Impres­sio­nen einer lee­ren, grauen Stadt. Dann wird alles wie­der schwarz.

Ich bin auf einer grü­nen Wiese.

Ich fliege durch die Blu­men, die in einer lan­gen Reihe ste­hen. Jede Farbe hat einen eige­nen Klang, jede Blume einen ande­ren Ton. Wie­der ver­su­che ich allen ver­trock­ne­ten Stel­len zu neuem Glanz zu ver­hel­fen. Doch dies­mal wird das Gras zwi­schen den Hügeln nicht nur Grün, son­dern auch Blau – ich bin der Traum einer Blume, in dem das Gras blau sein kann und Heu­hau­fen leuch­ten kön­nen. Am Ende finde ich wie­der einen Wir­bel in einem dop­pel­ten Stein­kreis, der die Frage auf­wirft, ob wirk­lich Drui­den Stone­henge errich­tet haben oder die Natur nicht ein­fach alles selbst viel bes­ser kann. Die kleine Blume schickt eine Welle aus und das Gras des Val­leys beginnt zu glit­zern und wäh­rend sich Regen­wol­ken ver­zie­hen, spannt sich ein Regen­bo­gen über den Himmel.

Auf dem Fens­ter­brett steht ganz links ein wei­te­rer Topf mit einer pin­ken Blume. Ver­zerrte Strei­cher erklin­gen auf Tas­ten­druck. Die Sonne strahlt auf die Bäume, die an den Stra­ßen der Stadt ste­hen. Die Natur hat hier Raum.

Ich bin auf einer grü­nen Wiese.

Die Blu­men ste­hen auf einem Hügel­kamm und haben nun eine Stimme; wenn ich sie anstupse, singt ein Chor. Meh­rere Blu­men ste­hen zwi­schen Wind­rä­dern. Sobald ich sie zum Blü­hen gebracht habe, erhebt sich ein stär­ke­rer Wind und setzt die Roto­ren in Bewe­gung. Mein Blü­ten­schweif trägt die Far­ben Rosa, Gelb, Weiß und Blau. Ich setze immer mehr Wind­rä­der in Bewe­gung und errei­che ein Feld vol­ler leuch­tend blauer Blu­men, zwi­schen denen sich noch mehr weiße Pfähle in den Wind stre­cken. Ich lasse das Feld erblü­hen und als sich alle Räder dre­hen, geht die Sonne mit einem kräf­ti­gen Orange unter und ein Nacht­glit­zern legt sich auf die Blumenwiese.

Eine kleine, blaue Blume regt sich aus dem Topf, der auf dem Fens­ter­brett steht. Ein Tas­ten­druck und zu Kla­vier­ak­kor­den und dem Sum­men star­ker Elek­tri­zi­tät schie­ben sich Wol­ken vor den Mond. Ich sehe eine Stra­ßen­la­terne, die nach einem kur­zen Fla­ckern erlischt. Es ist Nacht.

Ich bin auf einer dunk­len Wiese.

Ich scheine wie­der auf dem Feld von vor­her zu sein. Die Sonne ist ver­schwun­den und die Wind­rä­der dre­hen sich, sodass kleine, gelbe Lich­ter ange­hen. Der Blü­ten­schweif gleicht einer Stern­schnuppe, die die Wiese erleuch­tet und zum Leuch­ten bringt. Ich ziehe Kreise um auf­ge­stellte Heu­hau­fen, die dar­auf­hin blau zu leuch­ten begin­nen. Ich kreise in Spi­ra­len um Later­nen und eine nach der ande­ren beginnt zu strah­len. Plötz­lich ein Defekt. Der Wind pfeift unheim­lich durch die Strom­mas­ten, die wie ver­ges­sen und ver­fal­len aus dem Boden ragen. Die Lich­ter fun­keln nun röt­lich und bedroh­lich, am Hori­zont scheint etwas Böses zu war­ten. Dann endet der Traum plötzlich.

Ganz rechts steht nun eine kleine, vio­lette Blume, die den Kopf hän­gen lässt. Har­fen­klänge und Flö­ten­töne beglei­ten das Geräusch von Regen in einer Pfütze.

Ich bin auf einer dunk­len Wiese.

Regen­wol­ken ver­län­gern die Nacht. Ver­ein­zelt fal­len schwere Trop­fen ins Gras. Vor­sich­tig weht das Blü­ten­blatt. Immer wenn ich auf andere Blu­men treffe, löst sich das Blü­ten­blatt mit dem Klang einer ver­stimm­ten Gitarre. Zwi­schen den Hügeln wach­sen ver­dorrte, dor­nige Ran­ken, die mir den Weg zu ver­sper­ren schei­nen. Ver­bo­gene Metall­ge­rüste ragen aus dem Boden. Ich nähere mich der unwirt­li­chen Stadt. Wenn ich an diese schein­bar ver­ges­se­nen Strom­mas­ten stoße, ver­bren­nen die Blät­ter und der Blü­ten­schweif wird dün­ner. Es gibt also doch eine Bedro­hung in die­ser Welt. Vor­sich­tig nähere ich mich den Blu­men bei den Mas­ten, die weiß­ge­wa­schen, unschul­dig und unbe­droh­lich wer­den, sobald alle Pflan­zen auf­ge­blüht sind. Es don­nert wie­der­holt und es bleibt unklar, ob es das Gewit­ter oder doch die Strom­mas­sen sind. Immer mehr der Stahl­ge­rüste stür­zen ein, als wür­den sie der Kraft der Blu­men nicht stand­hal­ten kön­nen. So kämpfe ich mich wei­ter vor, bis am Hori­zont eine Stadt erscheint und der Traum endet.

Eine Blume, die klei­ner ist als die ande­ren, steht nur ganz am Rand des Fens­ter­bretts. Klein und weiß.

Ich bin wie­der auf der Wiese zwi­schen den Mas­ten. Es ist der kol­lek­tive Traum der Stadt­blu­men. Eine Aura scheint die kleine, weiße Blume zu umge­ben und mit einer Welle, wie ich sie schon kenne, zer­bre­chen die Metall­ge­rüste, der Regen endet und das Gras erstrahlt in kräf­ti­gem Grün. Zahl­rei­che gelbe Blu­men begin­nen zu sprie­ßen. Hohe Zim­beln klin­gen nach, als sie erblü­hen. Der Chor singt, wenn ich noch mehr Metall­stre­ben von der Wiese ver­schwin­den lasse. Beglei­tet von vor­wärts­trei­ben­den Kla­vier­me­lo­dien mit stak­ka­to­ar­ti­gem Rhyth­mus errei­che ich die Stadt, die dun­kel und ver­wahr­lost aus­sieht. Strei­cher erklin­gen, als die Blu­men erblü­hen und die Gebäude in einem rei­nen Weiß erstrah­len. Die ganze Stadt erhebt sich aus einem gras­grü­nen Meer, in dem Spiel­plätze ste­hen und rie­sige Wind­ma­schi­nen, die für Luft­zir­ku­la­tion in den Häu­ser­schluch­ten sor­gen. Der Wind­stoß schleu­dert mich auf die Dächer, auf denen lau­ter Blu­men wach­sen, die schein­bar die ganze Fas­sade bunt fär­ben. Über die Schnell­straße, auf der eben­falls lau­ter Blu­men ste­hen, rase ich auf das größte Gebäude zu, das sta­che­lig in den Him­mel ragt. Ich befreie den Turm von all dem dunk­len Stahl und eine Meta­mor­phose beginnt: Der Wol­ken­krat­zer, der Ver­such der Men­schen über die Welt hin­aus­zu­wach­sen, ver­wan­delt sich in einen Baum, des­sen Krone über der Stadt thront.

Auf diese Weise ist „Flower“ mehr als ein Spiel, das dich her­aus­for­dert, alle Blü­ten zum Blü­hen zu brin­gen, ohne von Strom­schlä­gen ver­letzt zu wer­den. Mehr als ein Blu­men­bild, durch das du reist und das du bunt machst. Mehr als Sin­fo­nie aus Far­ben und Klän­gen, in die du ein­tauchst. „Flower“ ist ein Plä­doyer für eine grü­nere Zukunft, die eben nicht dar­aus besteht, jetzt alles abzu­rei­ßen und die Bequem­lich­keit auf­zu­ge­ben. Dass die Traum­reise in der Stadt endet, die ver­wan­delt wird, zeigt, dass ein Kom­pro­miss und eine Syn­these aus Öko­lo­gie und Öko­no­mie mög­lich ist (wer von uns möchte nicht in einer Stadt leben, in der der Boden saf­ti­ges Gras ist und im Zen­trum ein kräf­ti­ger Baum lebt?). Das alles wird von klei­nen Blu­men voll­bracht. Das sollte uns auch den Mut geben, dass wir es schaf­fen kön­nen: Jede*r von uns kann die Brise sein, die das Wind­kraft­werk antreibt und die Welt in eine grü­nere Zukunft trägt.

Flower. Ent­wick­ler: that­game­com­pany. Publis­her: Sony Com­pu­ter Enter­tain­ment, Anna­purna Inter­ac­tive. 2007. Platt­for­men: Play­Sta­tion 3, Play­Sta­tion 4, Play­Sta­tion Vita, iOS, Micro­soft Win­dows. Genre: Aben­teu­er­spiel. Ein­zel­spie­ler. Ab 0 Jahren.

Ein Bei­trag zum Spe­cial #BKUm­welt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

Screen­shots: that­game­com­pany // Illus­tra­tion: Satz­hü­te­rin Pia

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