Friedhof der Visionen

by Fabelforscher Christian

Was haben ein Gar­ten­pa­vil­lon in Lucken­walde, der Palast auf der Akro­po­lis und eine rie­sige Kup­pel über Man­hat­tan gemein­sam? Sie alle basie­ren auf her­aus­ra­gen­den Ideen und Visio­nen ihrer Zeit und wur­den den­noch nie ver­wirk­licht. Fabel­for­scher Chris­tian hat sich auf eine archi­tek­to­ni­sche Zeit­reise begeben.

Die Gründe dafür, dass die Bau­werke in die­sem Buch nie Wirk­lich­keit wur­den, sind viel­fäl­tig. Egal ob knappe Kas­sen, Kriege oder schlicht rückg­rad­lose Poli­ti­ker, die Angst davor hat­ten, etwas zu wagen und neue Wege zu gehen – irgend­et­was kam immer dazwischen.

Trotz der chro­no­lo­gi­schen Ord­nung las­sen die ein­zel­nen Kapi­tel immer ein Grund­thema erken­nen, wie die Vision einer idea­len Stadt, Lösungs­an­sätze für immer schnel­ler wach­sende Städte oder die Suche nach dem Neuen, Moder­nen. Auf­fäl­lig ist, dass gerade in der ers­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts der Fokus vie­ler Ide­al­städte vor allem auf dem Auto­ver­kehr liegt, dem durch immer höhere Hoch­haus­bau­ten immer mehr hori­zon­ta­ler Raum zuge­spro­chen wird.

Great Vic­to­rian Way & Totaltheater

Beson­ders beein­druckt haben mich zwei völ­lig ver­schie­dene Pro­jekte, die nur ganz knapp, auf­grund unglück­li­cher Umstände, zur Nicht­exis­tenz ver­dammt wur­den. Beim Great Vic­to­rian Way, benannt nach der damals über das bri­ti­sche Empire herr­schen­den Queen Vic­to­ria, han­delt es sich um einen glas­be­dach­ten Bou­le­vard mit Geschäf­ten, brei­ten Bür­ger­stei­gen und einer Fahr­bahn für Rei­ter und Kut­schen. Das Beson­dere soll­ten die Dimen­sio­nen wer­den. Auf einer Länge von elf Mei­len sollte der Bou­le­vard in einem gro­ßen Ring um die Lon­do­ner Innen­stadt die Fern­bahn­höfe mit­ein­an­der ver­bin­den. Um eine Viel­zahl von Men­schen schnell beför­dern zu kön­nen, war auch der Ein­satz einer Art druck­luft­be­trie­be­nen U‑Bahn vor­ge­se­hen. Obwohl die Begeis­te­rung für das Pro­jekt groß war, waren es am Ende büro­kra­ti­sche Hür­den und Ver­fah­rens­fra­gen, die den Great Vic­to­rian Way zu Fall brachten.

Ein wei­te­res fas­zi­nie­ren­des Pro­jekt war das für Ber­lin geplante Total­thea­ter von Wal­ter Gro­pius. Ende der 1920er Jahre ent­warf er für den Thea­ter­in­ten­dan­ten und Regis­seur Erwin Pis­ca­tor ein Schau­spiel­haus mit bis dato undenk­ba­ren Mög­lich­kei­ten für die Insze­nie­rung. Ein Groß­teil des Innen­raums, ein­schließ­lich der Bühne und eines Teils des Zuschau­er­raums, sollte dreh­bar sein. Dadurch wäre es mög­lich gewe­sen, die Bühne wie üblich fron­tal auf­zu­bauen, aber auch, den Zuschau­er­raum rings um die Bühne anzu­ord­nen und das Publi­kum stär­ker in das Gesche­hen hin­ein­zu­zie­hen. Unglück­li­cher­weise zer­strit­ten sich Gro­pius und Pis­ca­tor und somit ist es dem Stolz und dem Ego der bei­den zu „ver­dan­ken“, dass Ber­lin und die Welt um ein groß­ar­ti­ges Schau­spiel­haus ärmer sind.

Von außen betrachtet…

Optisch ist das Buch sehr schön gestal­tet und es sind zahl­rei­che Skiz­zen und Zeich­nun­gen ent­hal­ten. Ein­zi­ger Kri­tik­punkt sind die dop­pel­sei­ti­gen Abbil­dun­gen. Hier befin­det sich der Buch­falz lei­der jeweils genau mit­tig im Bild und ver­wehrt so oft den Blick auf das Wesent­li­che; aus­falt­bare Bild­ta­feln wären eine ele­gan­tere Lösung gewesen.

Um Philip Wil­kin­son fol­gen zu kön­nen und Spaß beim Lesen zu haben, ist kein tie­fer­ge­hen­des Fach­wis­sen nötig, allein man­che archi­tek­to­ni­schen Begriffe wer­den lei­der nicht erklärt, was aber einem prin­zi­pi­el­len Ver­ständ­nis kei­nen Abbruch tut. Das Buch rich­tet sich vor allem an All­ge­mein­in­ter­es­sierte, die auch vor Geschichte und Archi­tek­tur kei­nen Halt machen, aber auch Tri­via­samm­ler und Schlau­meier („Wuss­test du übri­gens…“) kom­men hier voll auf ihre Kosten.

Atlas der nie gebau­ten Bau­werke. Eine Geschichte gro­ßer Visio­nen. Philip Wil­kin­son. Aus dem Eng­li­schen von Lutz‑W. Wolff. dtv. 2018.

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