Fünf Jahrhunderte. Zwei Geschlechter. Ein Leben.

by Buchstaplerin Maike

Mit „Orlando“ ist Vir­gina Woolfs Klas­si­ker aus dem Jahr 1928 bei Insel als Neu­über­set­zung im hand­li­chen Taschen­buch-For­mat erschie­nen. Dabei erweist sich die Geschichte um den Adli­gen, der im Laufe sei­nes fast vier­hun­dert­jäh­ri­gen Lebens vom Mann zur Frau wird, als sehr modern. – Von Buch­stap­le­rin Maike

Orlando ist schön. Orlando ist adlig. Und Orlando ist zwei­fel­los ein Mann. Er wächst zur Zeit Eli­sa­beths I. und Shake­speare auf. Doch seine ers­ten eige­nen dich­te­ri­schen Geh­ver­su­che schei­tern. Nach­dem seine Liebe zu einer rus­si­schen Fürs­tin ent­täuscht wird, lebt er in Kon­stan­ti­no­pel als Gesand­ter – und erwacht nach poli­ti­schen Wir­ren als Frau. Sie schließt sich Zigeu­nern an und kehrt bald nach Eng­land zurück, wo ihr Geschlechts­wan­del einen juris­ti­schen Skan­dal ver­ur­sacht. Doch das hin­dert Orlando nicht, sich im 18. Jahr­hun­dert mit Schrift­stel­lern zu umge­ben, sich im 19. Jahr­hun­dert in einen Mann zu ver­lie­ben, ein Kind zur Welt zu brin­gen und sich ins 20. Jahr­hun­dert ein­zu­le­ben. Schließ­lich braucht es fast vier­hun­dert Jahre, viele Epo­chen und per­sön­li­che Wand­lun­gen, bis Orlan­dos lite­ra­ri­sches Werk end­lich reif für die Augen ande­rer ist...

Auch wenn der Unter­ti­tel des Romans „Eine Bio­gra­phie“ lau­tet, darf man sich nicht davon täu­schen las­sen. Früh wird deut­lich, dass die Gat­tung nicht allzu ernst genom­men wird. Der Bio­graph ist immer prä­sent, kom­men­tiert nach Her­zens­lust und spielt dadurch immer wie­der mit den Gren­zen von Bio­gra­phie und fik­tio­na­ler Erzäh­lung. Dabei ist das kei­nes­wegs tro­cken, son­dern recht scharf­sin­nig und wit­zig – von sub­til bis Slap­stick: „Hier schüt­telte sie irri­tiert den Fuß und zeigte ein, zwei Zoll ihrer Wade. Ein Matrose auf dem Mast, der in die­sem Moment zufäl­lig hin­un­ter­sah, erschrak so sehr, dass er den Halt ver­lor und sich nur um Haa­res­breite vor dem Sturz ret­ten konnte.“ (S.138). Mal wird sehr detail­liert und aus­schwei­fend über Orlan­dos Umstände reflek­tiert, mal ver­folgt man Orlan­dos Aben­teuer unmit­tel­bar und span­nend. Die Aus­schwei­fun­gen sind gewöh­nungs­be­dürf­tig, ebenso dass zen­trale Momente in Orlan­dos Leben oft bei­läu­fig abge­han­delt wer­den. Beim Lesen wird jeden­falls höchste Kon­zen­tra­tion abverlangt.

„Und in einem Zustand höchs­ter Unge­wiss­heit, ohne zu wis­sen, ob sie tot oder leben­dig war, Mann oder Frau, Her­zog oder nie­mand, fuhr sie mit der Post­kut­sche zu ihrem Land­sitz […].“ (S. 149)

Der Roman hat für mich zwei Stär­ken: Die spie­le­ri­sche Ver­hand­lung von Geschlecht und die Spra­che. Orlan­dos Wesen bleibt eigent­lich immer gleich, doch er_sie reflek­tiert im Laufe des lan­gen Lebens die unter­schied­li­chen Epo­chen, kom­men­tiert spitz­zün­gig die Gesell­schafts­ord­nung und nicht zuletzt die Rol­len, die Frauen und Män­ner ein­zu­neh­men haben. Woolf ent­blößt durch Orlando als Held_in, wie fluid Geschlech­ter sein kön­nen: Dass Klei­dung den Men­schen macht, dass man sich selbst auf­grund von Erwar­tungs­hal­tun­gen der Gesell­schaft in Rol­len hin­ein­lebt, und dass Kon­zepte von Natur grund­le­gend über­dacht wer­den müs­sen. Was eig­net sich dazu bes­ser als ein ein­zel­nes Leben, das an die Stelle vie­ler Genera­tio­nen tritt? Denn so skur­ril das unbe­grün­det lange Leben und der Geschlechts­wan­del im Roman ist, so effek­tiv ist er.

„Natur und Lite­ra­tur sind offen­bar von Natur aus unver­ein­bar; bringt man sie zusam­men, zer­rei­ßen sie ein­an­der.“ (S.16)

Mas­siv auf­ge­wer­tet wird das durch Woolfs aus­schwei­fende Spra­che, die sich zum Teil selbst als Par­odie ent­larvt, und zum Teil sprach­los macht vor Schön­heit und Klar­heit. Lange Sätze, die atem­los wir­ken, iro­ni­sche Bemer­kun­gen und Aus­flüge in unter­schied­li­che lite­ra­ri­sche Gat­tun­gen schmü­cken und spie­geln den Inhalt. Einen Bei­trag lie­fert die Neu­über­set­zung ins Deut­sche von Mela­nie Walz, die sehr flüs­sig und les­bar ist. Frü­here Über­set­zun­gen wir­ken ver­staubt und las­sen den Text älter und weni­ger modern erschei­nen als er ist.

Der amü­sante Roman ist eine lite­ra­ri­sche Lie­bes­er­klä­rung an Woolfs Fre­u­nidn Vita Sack­ville-West, die Orlando nicht nur ihr Wesen leiht, son­dern auch Pate für einige Abbil­dun­gen im Buch steht. Doch auch ohne Wis­sen um die Anspie­lun­gen, die Woolf ein­ge­baut hat, ist „Orlando“ ein im mehr­fa­chen Sinne moder­ner Klas­si­ker, der Leben, Liebe und Lite­ra­tur ver­gan­ge­ner Epo­chen leben­dig macht.

Orlando: Eine Bio­gra­phie. Vir­gina Woolf. Über­set­zung: Mela­nie Walz. Insel Taschen­buch. 2015.

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