Ganz so einfach ist es nicht!

by Seitenkünstler Aaron

Nicht erst seit der Erfin­dung des Inter­nets haben wir unter­schied­li­che Welt­an­schau­un­gen, aber es scheint mir, als wür­den wir uns auch im 21. Jahr­hun­dert beson­ders ver­bis­sen über Ansich­ten strei­ten. Im Bil­der­buch „Der Berg“ von Rebecca Gug­ger und Simon Röth­lis­ber­ger wird dem schwie­ri­gen Thema der Mei­nungs­ver­schie­den­heit mit beacht­li­cher Leich­tig­keit begeg­net. – Von Sei­ten­künst­ler Aaron

Die far­bi­gen Illus­tra­tio­nen pas­sen her­vor­ra­gend zum Text: Sie sind auf­re­gend, abwechs­lungs­reich bei gleich­blei­ben­dem Stil und sie por­trai­tie­ren gekonnt die fabel­haf­ten Cha­rak­tere in die­ser Tier­ge­schichte. Aus vol­len Regis­tern gezo­gen ergän­zen sich Kari­ka­tur und Natur der Figu­ren und Gra­fik und Tex­tur in den Kulis­sen. Das Ganze ist der­art fein­sin­nig ein­ge­färbt und kommt im Druck so gut zur Gel­tung, dass ich mir das Wort „per­fekt“ nicht ver­knei­fen kann. Die­ser Ein­druck ent­steht gestützt durch das ebenso durch­dachte Lay­out, das die Balance zwi­schen Illus­tra­tion und Schrift mit groß­zü­gi­gen Zuge­ständ­nis­sen für beide Ele­mente in einem auf­re­gen­den Zusam­men­spiel wahrt.

In diese Form gebet­tet ent­wi­ckelt sich eine Geschichte einer Berg­be­stei­gung durch sechs Tiere, die sich dar­über strei­ten, wie oder was der Berg über­haupt sei. Auf dem Gip­fel und Höhe­punkt der Geschichte fin­den die Bergin­sel­be­woh­ner schließ­lich ihren Frie­den mit den Wor­ten „Eigent­lich ist es ganz ein­fach“, denn von oben kön­nen sie alle Bio­tope des Ber­ges auf ein­mal sehen.

Eigent­lich ist es nicht ganz einfach

Das Ende ist nur schein­bar deu­tungs­of­fen und impli­ziert eine bestimmte Bot­schaft, die im ers­ten Teil des Buches detail­liert auf­ge­baut wird. Doch ganz so ein­fach ist es nicht, wenn wir uns mit der Viel­falt der Erfah­rungs­wel­ten in die­ser Geschichte aus­ein­an­der­set­zen. Logi­sche Pro­bleme blei­ben nach wie vor bestehen: Wo haben sich die Tiere denn gestrit­ten, ohne dass der Okto­pus nicht zumin­dest sein Habi­tat ver­las­sen und die ande­ren Lebens­räume sehen konnte? Konnte der Hase, der ja „auf dem Berg“ lebt, nicht vor­her auch schon her­un­ter­bli­cken? Wie sieht denn eigent­lich sein Weg auf den Berg aus, wenn er doch auf dem Berg lebt? Und warum klet­tert die Ameise nicht auf ihren Amei­sen­hü­gel, den sie als „de[n] Berg“ bezeich­net, son­dern statt­des­sen ohne Ein­wände auf das, was die ande­ren Tiere als Berg bezeichnen?

Indem (zumin­dest am Ende die­ses Buches) jede Ansicht über den Berg zumin­dest als Teil des Gan­zen legi­ti­miert wird, wer­den logi­sche Feh­ler und Miss­ver­ständ­nisse zuguns­ten einer impli­zier­ten ein­fa­chen, hei­len Welt unter den Tisch gekehrt. Das berei­tet einen Nähr­bo­den für den gefähr­li­chen Umkehr­schluss, dass abso­lut jede Mei­nung rich­tig oder Teil des Gan­zen sein kann, nur weil sie sich von den Ansich­ten ande­rer unter­schei­det. Damit wird die Geschichte pro­ble­ma­tisch, ohne über­haupt The­men ein­zu­be­zie­hen, die sich in einer zeit­ge­nös­si­schen Les­art nahezu auf­drän­gen. (Gemeint sind unzu­ver­läs­sige Erzähl­stim­men, absicht­li­che Lügen oder gar Verschwörungsmythen.)

Gekonnt und gewagt

„Der Berg“ ist nicht ein­fach nur eines die­ser optisch wohl­ge­fäl­li­gen Bil­der­bü­cher, die der Nord­Süd Ver­lag ver­öf­fent­licht. Es ist erstaun­lich, wie viele Fra­gen sich an das Buch anschlie­ßen und wel­che Grund­lage es damit für eine Dis­kus­sion über Wis­sen und Irr­glau­ben bietet.

Wer viel macht, kann auch viel falsch machen: Was inhalt­lich auf der Stre­cke geblie­ben ist, machen die visu­el­len Ein­drü­cke mehr als wett. In die­sem Sinne halte ich dies für ein her­vor­ra­gen­des Buch für jedes Alter, weil es sich mutig und angreif­bar in der kur­zen Form eines Bil­der­buchs eines kom­ple­xen, uni­ver­sel­len The­mas annimmt.

Der Berg. Rebecca Gug­ger und Simon Röth­lis­ber­ger. Nord­Süd Ver­lag. 2021. Ab 4 Jahren.

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