Geschichten vom kleinen Nachtwächter #litadvent

by Bücherstadt Kurier
Wer bin ich?

Ich bin der kleine Nacht­wäch­ter, und seit vie­len, vie­len Jah­ren gehe ich in der Nacht durch mein Städt­chen, um nach dem Rech­ten zu schauen. Ich ziehe mir Man­tel und Stie­fel an, setze mei­nen Hut auf, nehme Spieß und Laterne zur Hand, und dann geht es los:

Als Ers­tes ver­schließe ich die Stadt­tore, um unge­be­tene Gäste fern­zu­hal­ten, dann zünde ich nach­ein­an­der alle Stra­ßen­la­ter­nen an, und wäh­rend ich durch jede Straße und Gasse laufe, schaue ich in alle Win­kel und Ecken, um zu sehen, ob sich Diebe oder Strol­che im Städt­chen ver­steckt haben. Wenn dann die Kirch­turm­uhr zehn Mal zur Nacht geschla­gen hat, rufe ich ganz laut, so dass mich alle hören kön­nen: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat zehn Mal zur Nacht geschla­gen! Ich bin auf der Hut, in der Stadt ist alles gut – es ist kein ein­zig Dieb zu sehn, Ihr Leute könnt jetzt schla­fen gehen!“

Dann sind alle Men­schen im Städt­chen beru­higt und schla­fen tief und fest in ihren war­men Bet­ten. Ich gehe wei­ter Stunde um Stunde durch mein Städt­chen, damit auch wirk­lich nichts pas­siert. Wenn am Mor­gen dann die Kirch­turm­uhr sechs Mal schlägt, rufe ich wie­der ganz laut: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat sechs Mal zum Mor­gen geschla­gen – alles raus aus den Federn und ohne zu zetern!“

Dann ste­hen alle Bewoh­ner auf, machen Früh­stück, und ein jeder geht an sein Tag­werk. Ich aber gehe nach Hause und lege mich schla­fen. Und was soll ich Euch sagen – wenn ich so Nacht für Nacht durch mein Städt­chen gehe, erlebe ich die tolls­ten Geschich­ten, von denen ich Euch jetzt einige erzäh­len möchte.

Der verlorene Nussknacker

Unser Städt­chen liegt am Rande des Erz­ge­bir­ges, nicht weit von der gro­ßen Stadt Dres­den. In Dres­den gibt es in der Advents­zeit einen Weih­nachts­markt. Nur nen­nen ihn die Dresd­ner nicht wie andere Städ­ter Weih­nachts­markt, son­dern Strie­zel­markt. In Dres­den soll es die bes­ten Back­wa­ren geben. Man erzählt sich, dass ein Dresd­ner Bäcker irgend­wann ein­mal ein Gebäck erfun­den hat, das er Strie­zel nannte. Nach die­sem Gebäck erhielt der Strie­zel­markt sei­nen Namen und Strie­zel gab es nur dort zu kau­fen. Doch es wur­den dort nicht nur Strie­zel ange­bo­ten, son­dern viele wei­tere Lecke­reien und schöne Dinge. Unter ande­rem auch Holz­spiel­zeug aus dem Erzgebirge.

In einer bit­ter­kal­ten Advents­nacht – das liegt natür­lich schon wie­der Jahre zurück – hörte ich ein herz­zer­rei­ßen­des Jam­mern und Zäh­ne­klap­pern vor dem Stadt­tor. Ich war bereits seit Stun­den im Städt­chen unter­wegs, schon lange hatte ich zur Nacht­ruhe geru­fen: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat zehn Mal zur Nacht geschla­gen! Ich bin auf der Hut, in der Stadt ist alles gut – es ist kein ein­zig Dieb zu sehn, Ihr Leute könnt jetzt schla­fen gehen!“

Ich wollte gerade meine Pause ein­le­gen, um einen hei­ßen Kräu­ter­tee zu trin­ken, als ich das Jam­mern hörte. Also schloss ich das Tor noch ein­mal auf. Zu mei­nem Erstau­nen stand ein mit­ge­nom­me­ner Nuss­kna­cker vor mir und klap­perte mit sei­nen gro­ßen Zäh­nen. Er bot wirk­lich einen trau­ri­gen Anblick: Der linke Arm war weg, von sei­ner Krone fehl­ten meh­rere Zacken, seine Beine schie­nen ange­bro­chen und das Gesicht schaute völ­lig dreck­ver­schmiert drein.

„Was ist denn mit dir pas­siert?“, fragte ich.
„Ich bin ver­lo­ren gegan­gen“, ant­wor­tete der Nuss­kna­cker und ein paar Trä­nen roll­ten über seine Wangen.
„Komm doch her­ein, ich muss das Stadt­tor wie­der verschließen.“
Der Nuss­kna­cker hum­pelte ins Städt­chen. Ich schloss das Tor, nahm den höl­zer­nen Gesel­len in mei­nen Arm und ging in mein Häuschen.
„Jetzt koche ich uns erst­mal eine gute Tasse Kräu­ter­tee. Dann kannst Du mir deine Geschichte erzählen.“

Beim Tee­trin­ken beru­higte sich der Nuss­kna­cker und fing an zu berich­ten: „Hör zu, klei­ner Nacht­wäch­ter“, sagte er. „Mich hat der Spiel­zeug­ma­cher Meis­ter Holz­wurm gedrech­selt. Seine Frau malte mich bunt an und seine Kin­der haben mir einen Bart aus wei­chem Fell ange­klebt. Ich sah wun­der­schön aus: schwarze Stie­fel, gelbe Hosen, roter Man­tel, und meine Krone glänzte gol­den. Du musst wis­sen, im Erz­ge­birge gibt es ganz viele Spiel­zeug­ma­cher. Sie schnit­zen und drech­seln das ganze Jahr, und nicht nur Nuss­kna­cker – nein, auch Räu­cher­männ­chen, Tiere aller Art, Holz­au­tos, Eisen­bah­nen, Bau­klöt­zer und nicht zu ver­ges­sen die Weih­nachts­py­ra­mi­den. Nach­dem alles bunt bemalt ist, wird es in große Körbe gelegt. In der Advents­zeit schnal­len sich die Spiel­zeug­ma­cher die Körbe auf den Rücken und wan­dern nach Dres­den. Auf dem Strie­zel­markt ver­kau­fen sie ihre Holz­wa­ren. So war es auch bei mir. Meis­ter Holz­wurm hatte mich ganz oben auf den Korb gelegt. Auf sei­nem Weg nach Dres­den fiel ich mit­ten im Wald aus dem Korb genau in eine Pfütze. Dabei ging mein lin­ker Arm ver­lo­ren. Von mei­ner Krone bra­chen vier Zacken ab und das Schlimmste: beide Beine waren ange­bro­chen! Ich rief so laut ich konnte um Hilfe, aber Meis­ter Holz­wurm hörte mich nicht. Er ging ein­fach wei­ter. Mit mei­nen kaput­ten Bei­nen konnte ich ihm lei­der nicht fol­gen. So saß ich mut­ter­see­len­al­lein im Schmutz, mit­ten im dunk­len Wald. Vor Angst begann ich zu zit­tern und mit mei­nen Zäh­nen zu klap­pern. Da kam aus einem Laub­hau­fen ein Igel ange­kro­chen. Der fragte mich, warum ich so laut klap­perte und ihn so aus dem Win­ter­schlaf holte. Ich erzählte ihm, was pas­siert war. Dar­auf­hin bot er mir an, mich in die­ses Städt­chen zu brin­gen. Der Weg sei nicht weit und außer­dem gäbe es dort einen hilfs­be­rei­ten Nacht­wäch­ter. Und so bin ich bei dir gelandet.“

„Da hast du ja ein gro­ßes Aben­teuer erlebt“, sagte ich und goss eine zweite Tasse Tee ein. „Nur gut, dass dich der Igel gehört und ins Städt­chen gebracht hat. Das war Glück im Unglück! Nun hast du nichts mehr zu befürch­ten. Ich wasche dich erst ein­mal und lege dich dann schla­fen. Wäh­rend du schläfst, gehe ich wie­der an meine Arbeit, und wenn ich am Mor­gen die Leute geweckt habe, bringe ich dich zum Tisch­ler­meis­ter Hobel­span. Der kann dich bestimmt repa­rie­ren und seine Kin­der kön­nen dich neu anma­len, so dass du wie­der rich­tig schmuck aus­se­hen wirst.“
So ging ich erneute an meine Arbeit.

Am Mor­gen, nach­dem die Kirch­turm­uhr sechs Mal geschla­gen hatte, rief ich wie gewohnt: „Liebe Leute, lasst Euch sagen, die Uhr hat sechs Mal zum Mor­gen geschla­gen – alles raus aus den Federn und ohne zu zetern!“

Ich löschte die Stra­ßen­la­terne und öff­nete die Stadt­tore. Auf dem Nach­hau­se­weg ging ich noch schnell beim Bäcker vor­bei und kaufte fri­sche Bröt­chen für das Früh­stück. Zu Hause ange­kom­men, kochte ich Kräu­ter­tee, deckte den Tisch und weckte den Nuss­kna­cker. Nach dem Früh­stück nahm ich ihn unter den Arm und ging zu Meis­ter Hobel­span. Ich erzählte ihm, was vor­ge­fal­len war, und er erklärte sich sofort bereit, den Nuss­kna­cker zu repa­rie­ren. Schon tags dar­auf sah er wie neu aus. Die Kin­der von Meis­ter Hobel­span gaben ihm den Namen König Knack-Knack und brach­ten ihn zur Gemü­se­händ­le­rin mit der Bitte, ihn doch in ihrem Obst- und Gemü­se­stand auf dem Weih­nachts­markt auf­zu­stel­len. So könn­ten alle Kin­der, die bei ihr Nüsse kauf­ten, diese auch gleich dort knacken.

Seit­her steht König Knack-Knack jedes Jahr auf dem Weih­nachts­markt und knackt bei der Gemü­se­händ­le­rin Nüsse für die Kinder.

Texte: Moro Rode­feld
Illus­tra­tio­nen: Anton Paul Kammerer

Ein Bei­trag zum Spe­cial #lit­ad­vent. Hier fin­det ihr alle Bei­träge. Die Texte „Wer bin ich?“ und „Der ver­lo­rene Nuss­kna­cker“ stam­men aus dem Buch „Der kleine Nacht­wäch­ter erzählt“. Das Buch mit 24 Geschich­ten zur Advents­zeit erschien 2015 in der edi­tion claus.

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