Haben Märchen subversives Potential, oder werden in ihnen bestehende Geschlechterrollen zementiert?

by Bücherstadt Kurier

Stadt­be­su­che­rin Sarah L. R. Schnei­ter von Clue Wri­ting denkt auf Papier über Mär­chen und die Geschlech­ter­rol­len darin nach und über­legt, wie anders Kin­der und Erwach­sene Mär­chen wahr­neh­men (kön­nen).

Wir alle ken­nen die Geschich­ten vom hel­den­haf­ten Prin­zen, der die ein­ge­sperrte oder schla­fende Prin­zes­sin ret­tet, von der bösen Hexe, von dem nai­ven Rot­käpp­chen, das einem bösen Wolf auf den Leim geht und natür­lich von den hel­den­haf­ten Rit­tern, die uner­schro­cken gegen rie­sige, feu­er­spei­ende Dra­chen kämp­fen und dabei nur allzu oft umkom­men. Doch was erzäh­len uns diese meist Jahr­hun­derte alten, häu­fig im Laufe der Zeit stark ver­än­der­ten Texte über unsere Gesell­schaft? Mär­chen und Fabeln, wie sie von den Gebrü­dern Grimm oder von Jean-Jac­ques Per­re­ault nie­der­ge­schrie­ben wor­den sind, wur­den nicht von die­sen bekann­ten Per­sön­lich­kei­ten erfun­den, son­dern sind in den meis­ten Fäl­len alte Volks­ge­schich­ten und ‑legen­den, die von den Autoren gesam­melt und häu­fig umge­dich­tet wor­den sind. Dem­entspre­chend gibt es auch ver­schie­dene Vari­an­ten davon; so wird zum Bei­spiel Rot­käpp­chen bei Per­re­ault, der noch näher an den meist viel bru­ta­le­ren Ori­gi­nal­ge­schich­ten liegt, vom Wolf auf­ge­fres­sen und danach nicht gerettet.

Geschlech­ter­rol­len – märchenhaft!

Doch was hat das alles mit Geschlecht zu tun? Ganz ein­fach: Wie jedes Erzeug­nis einer bestimm­ten Epo­che spie­geln Mär­chen auch die gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nisse ihrer Zeit wider und da sie einer stän­di­gen Ver­än­de­rung unter­lie­gen, kön­nen sich ihre Aus­sa­gen eben­falls wan­deln. Man denke bloß an Zei­chen­trick- und Ani­ma­ti­ons­filme, von den alten Dis­ney-Strei­fen bis hin zur moder­nen Par­odie „Shrek“, in wel­cher die Prin­zes­sin Kampf­sport beherrscht und der Held alles andere als rit­ter­lich ist. Aber Mär­chen zei­gen uns nicht nur, wie die Gesell­schaft etwas (in unse­rem Fall Geschlech­ter­rol­len) zu einer bestimm­ten Zeit sah oder sieht, son­dern hel­fen wie alle popu­lär­kul­tu­rel­len Pro­dukte gleich­zei­tig auch dabei, unser Ver­ständ­nis von Geschlecht zu for­men, uns zu bestä­ti­gen oder zu Zwei­feln zu veranlassen.

Ohne Mär­chen, die von Genera­tion zu Genera­tion wei­ter­ge­reicht wer­den, gäbe es wohl keine Mäd­chen, die Prin­zes­sin­nen sein woll­ten und keine Jun­gen, die als tap­fere Rit­ter gegen den bösen Dra­chen antre­ten. Bei den Grimm-Mär­chen, die im deut­schen Sprach­raum sehr bekannt sind, erken­nen wir sehr rasch, dass die Geschlech­ter­rol­len der Prot­ago­nis­ten sehr ste­reo­typ ver­teilt sind, ent­spre­chend der Zeit, aus der sie stam­men. Die Prin­zes­sin ist schön und braucht die Hilfe des Prin­zen, die unab­hän­gige Frau ist eine böse Hexe und die Män­ner müs­sen kämp­fen sowie in der Schlacht fal­len, was ebenso wenig Aus­sich­ten auf eine gute Kar­riere sind. Es gibt aber ein­zelne Ele­mente, in denen die Rol­len von akti­ven und pas­si­ven Cha­rak­te­ren ver­tauscht sind, bei­spiels­weise wenn die Prin­zes­sin einen Frosch küs­sen muss, damit er sich in einen Prin­zen ver­wan­delt. Aber auch da zieht sie nicht mit der Waffe in der Hand in den Kampf, son­dern muss etwas tun, das ihrer ange­stamm­ten Geschlech­ter­rolle entspricht.

Mär­chen­hafte Vorbilder?

Machen also Mär­chen unsere Kin­der glau­ben, dass sie genauso sein müs­sen wie die Prin­zes­sin oder der edle Rit­ter? Wenn wir auf unse­rem nächs­ten Stadt­spa­zier­gang einen Abste­cher in einen gro­ßen Spiel­wa­ren­la­den machen und uns dort etwas umse­hen, wer­den wir fest­stel­len, dass dem zumin­dest in der Ver­mark­tung noch häu­fig so ist. Für die Mäd­chen gibt es Unmen­gen an Prin­zes­sin­nen-Kleid­chen, Dia­deme und Glas­per­len, für die Jungs Plas­tik­schwer­ter und Helme. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, denn auch wenn alles danach aus­sieht, als ob sich wenig ver­än­dert hat, so sehen wir heut­zu­tage doch, dass es zumin­dest für die Mäd­chen in einem gewis­sen Rah­men mög­lich ist, auf ein grö­ße­res sozia­les Spek­trum an Rol­len­bil­dern zurückzugreifen.

Mär­chen subversiv!

Kön­nen Mär­chen auch sub­ver­si­ves Poten­tial haben, kön­nen sie alte Geschlech­ter­bil­der unter­gra­ben und in Frage stel­len? Um dies zu beant­wor­ten, müs­sen wir erst ein­mal zwi­schen Kin­dern und Erwach­se­nen unter­schei­den, die Geschich­ten auf ver­schie­dene Arten ver­ste­hen und inter­pre­tie­ren. Ein gutes Bei­spiel dafür sind die ein­gangs erwähn­ten „Shrek“-Filme, die auf dem gro­ßen Fun­dus aus Mär­chen auf­bauen, der im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis der west­li­chen Gesell­schaft gut ver­an­kert ist und so jeder­zeit zitiert wer­den kann, ohne dass dabei viele Erklä­run­gen von­nö­ten sind. Wäh­rend Erwach­sene diese Geschichte mit ihren (Kindheits-)Erinnerungen an Mär­chen als post­mo­derne Par­odie ver­ste­hen, die mit unse­ren Erwar­tun­gen spielt und sie auf die Schippe nimmt, wer­den Kin­der, die noch kaum Mär­chen ken­nen, das Ganze als eine unter­halt­same Geschichte sehen, nichts mehr und nichts weni­ger. Doch auch hier, bei den moder­nen Varia­tio­nen von Mär­chen, ist die Prin­zes­sin immer noch die junge Frau, die vom Rit­ter geret­tet wer­den muss oder will, auch wenn sie viel­leicht die eine oder andere Kampf­sport­art beherr­schen mag.

Mora­li­sche Märchen

Nor­ma­ler­weise haben Mär­chen auch eine Moral, eine prä­gnante Aus­sage am Ende, die sie zu einer Art Lehr­stück macht, das den Kin­dern etwas bei­brin­gen soll – sei es nun, dass ver­klei­dete Wölfe keine Groß­müt­ter sind oder dass am Ende das Gute immer gewinnt, weil ein glä­ser­ner Schuh an den Fuß passt. Die Leh­ren, die aus den alten Geschich­ten gezo­gen wer­den kön­nen, sind aber in den meis­ten Fäl­len nicht beson­ders sub­ver­siv, son­dern sehr ein­fach und manch­mal auch alles andere als zeitgemäß.

Darum wol­len wir uns die Mög­lich­kei­ten anse­hen, wel­che uns die alten Mär­chen­stoffe bie­ten, um sie so umzu­deu­ten, dass eine andere Geschichte erzählt wer­den kann, eine Geschichte, die moder­nere Werte ver­mit­telt. Viel­leicht ver­mag uns ein ver­än­der­tes Mär­chen als Lesende so zu ver­wir­ren, dass wir am Ende von selbst dazu kom­men, uns die Frage zu stel­len, wel­che Werte uns die ursprüng­li­che Geschichte eigent­lich ver­mit­telt hat. Es gibt unzäh­lige Mög­lich­kei­ten, wie alte Fabeln und Para­beln zu zeit­ge­nös­si­schen Mär­chen umge­deu­tet wer­den können.

Moderne Mär­chen

Ein ein­fa­ches Mit­tel, das uns bei der Lek­türe garan­tiert dazu bringt, Ver­glei­che mit unse­rem heu­ti­gen Leben und Erle­ben zu zie­hen, ist, die Hand­lung eines Mär­chens in unse­rer Zeit anzu­sie­deln. So kön­nen Werte leicht bewusst gemacht wer­den und man kommt rasch dazu, sich zu fra­gen, ob denn nun unser heu­ti­ges Leben noch immer von den dar­ge­stell­ten (geschlechter-)stereotypen Ver­hal­tens­wei­sen geprägt ist. Frü­her war Aschen­put­tel die Unschein­bare, heute würde man sie als „Nerd“ bezeich­nen. Nach die­sem Mus­ter kann man fort­fah­ren und es auf alle Ele­mente einer Erzäh­lung anwen­den, ganz wie es beliebt und nach eben die­sem Mus­ter funk­tio­nie­ren sehr viele Par­odien. Wie bereits erwähnt benö­tigt ein Mär­chen aber auch eine Moral, einen prä­gnan­ten Schluss­satz, der die Haupt­aus­sage der Geschichte auf einen Nen­ner bringt.

Und wird jetzt Aschen­put­tel oder auch Schnee­witt­chen modern, so kann sie sich durch­aus auch dafür ent­schei­den, dass sie keine Prin­zes­sin sein will und dazu keine schö­nen Schuhe oder einen Prin­zen braucht, dafür aber eine gute Freun­din fin­det und an einer ange­se­he­nen Uni­ver­si­tät stu­diert. Ver­än­derte Umstände füh­ren zu einem ande­ren Schluss und obwohl zu Beginn noch alle Anspie­lun­gen klar ersicht­lich waren, endet die Geschichte nicht so, wie wir es erwar­ten wür­den. Ein sol­cher Bruch mit Erwar­tun­gen wirft die Frage auf, wieso sich das Ende vom Ori­gi­nal unter­schei­det, wieso sich die Prot­ago­nis­tin so ent­schie­den hat und nicht anders. Es ist offen­sicht­lich, dass sie andere Werte hat und andere Ziele ver­folgt, sie will sich ihren Respekt selbst ver­die­nen. Mit die­sen Mit­teln lässt sich sehr rasch ein Mär­chen so umschrei­ben, dass es zeit­ge­mäß ist und, je nach Wunsch direkt oder auf sub­tile Weise, andere Rol­len­bil­der ver­mit­telt und gleich­zei­tig ver­al­tete Ideale in Frage stellt.

Mär­chen – manch­mal auch nur eine Geschichte

Klas­si­sche Mär­chen an sich sind also in den wenigs­ten Fäl­len sub­ver­siv. Natür­lich gibt es die eine oder andere Aus­nahme, wo es Außen­sei­tern gelingt, es weit zu brin­gen, doch trotz­dem müs­sen sie sich dazu in bestehende Struk­tu­ren ein­glie­dern. Den­noch las­sen sich sol­che der brei­ten Gesell­schaft bekann­ten Geschich­ten gut dazu nut­zen, uns durch Umschrei­ben oder mit eini­gen ein­fa­chen Ver­glei­chen Dinge bewusst zu machen und in Erin­ne­rung zu rufen. Und zu guter Letzt gibt es eine noch ein­fa­chere Lösung, wenn wir uns ein Mär­chen mit dem sub­ver­si­ven Poten­tial wün­schen, Geschlech­ter­rol­len in Frage zu stel­len: Wir set­zen uns hin und schrei­ben selbst eine von Grund auf neue Story. Wir soll­ten aber die alten Mär­chen des­halb nicht gleich ver­teu­feln und aus dem Bücher­re­gal ent­fer­nen, son­dern als Pro­dukte ihrer Zeit ver­ste­hen – denn manch­mal soll eine Geschichte auch ein­fach nur eine Geschichte sein dürfen.

Die Ursprungs­fas­sung die­ses Tex­tes erschien 2013 im Pro­gramm­heft zum Bal­lett „Snow White“ des Thea­ters Basel.

Autorin:
Sarah ist Co-Her­aus­ge­be­rin der Lite­ra­tur­platt­form Clue Wri­ting sowie des dazu­ge­hö­ri­gen Kurz­ge­schich­ten-Pod­casts und Autorin der Sci­ence-Fic­tion-Reihe „Pro­mise“. Zudem ist sie als Sach-/Fach­blog­ge­rin im Bereich IT und Tech­nik tätig und pro­du­ziert als Hobby Let’s‑Play-Videos.

Ein Bei­trag zum Spe­cial #Kun­ter­bunt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.
Illus­tra­tion: Feder­schrei­be­rin Kristina

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