Handwerker des Unerwarteten: Morgen mehr

by Worteweberin Annika

Mit sei­nem soge­nann­ten Lite­ra­tur­dings „Mor­gen mehr“ war Til­man Ramms­tedt am Sonn­tag im Rah­men der Lite­ra­Tour Nord zu Gast im Bre­mer Café Ambi­ente. Hier sprach er über die Ent­ste­hung sei­nes Romans im online-Expe­ri­ment, und dar­über, warum das nicht alles und schon gar keine Ent­schul­di­gung für irgend­et­was ist. Worte­we­be­rin Annika war dabei.

Das Schreib­ex­pe­ri­ment

Die Ent­ste­hungs­ge­schichte von „Mor­gen mehr“ ist außer­ge­wöhn­lich: Drei Monate lang schrieb der Autor Til­man Ramms­tedt täg­lich ein Kapi­tel, circa vier Sei­ten im Durch­schnitt. Wer dabei zuse­hen wollte, konnte durch ein kos­ten­pflich­ti­ges Abo jeden Tag den neuen Abschnitt per E‑Mail oder Whats­App-Nach­richt erhal­ten, inklu­sive eines Sel­fies des mal mehr, mal weni­ger ver­zwei­fel­ten Schrift­stel­lers. Lange wusste der dabei nicht mal, wie seine Geschichte eigent­lich aus­ge­hen sollte. „Das ist wie eine Reise, bei der man nicht weiß, wohin sie gehen wird. Man packt von allem etwas in den Kof­fer“, erklärt Ramms­tedt wäh­rend der Lesung. Nach die­ser Stra­te­gie packte er anfangs seine Geschichte voll mit Ideen und Strän­gen und war spä­ter ver­blüfft, dass er sie auch alle gebrau­chen konnte. Da nach der Schreib­phase noch fünf bis sechs Wochen zur Ver­fü­gung stan­den, um den Text zu über­ar­bei­ten, hät­ten sich mög­li­che Feh­ler im Nach­hin­ein aber auch besei­ti­gen lassen.

Fragt sich, ob das Schrei­ben sich trotz­dem ver­än­dert, wenn man einer­seits stän­dig beob­ach­tet wird, gleich­zei­tig aber auch jeden Tag in der Pflicht steht, ein Publi­kum zu unter­hal­ten. Wird man da nicht zu einem Hand­wer­ker des Uner­war­te­ten, zu jeman­dem, der um jeden Preis ori­gi­nell sein will? Ramms­tedt selbst hält es für mög­lich, dass die Schreib­situa­tion die Dyna­mik sei­nes Schrei­bens beein­flusst haben könnte. Zum Bei­spiel habe er häu­fig mit Cliff­han­gern gear­bei­tet, wenn sich ihm Fra­gen gestellt hät­ten. Am nächs­ten Tag habe er dann ver­sucht, genau diese zu beant­wor­ten. Das habe aller­dings nicht immer gleich gut geklappt, so erzählt Ramms­tedt davon, dass er ein­mal noch spät abends keine Idee gehabt habe. Seine Lösung dafür war schließ­lich ein kur­zer Text mit einer lan­gen Über­schrift über die eigene Ideen­lo­sig­keit. Ein Text übri­gens, der sich im gedruck­ten Roman nicht wiederfindet.

Was dahin­ter steht

Durch den Druck und die Ver­öf­fent­li­chung als Buch ist „Mor­gen mehr“ vom Lite­ra­tur­dings, wie es auf der Ver­lags­seite bezeich­net wird, zum „rich­ti­gen“ Roman gewor­den. Mit dem Wis­sen um die Ent­ste­hungs­ge­schichte erscheint es im ers­ten Moment den­noch unge­wöhn­lich, viel­leicht sogar unbe­dacht, dass auf der Buch­aus­gabe von „Mor­gen mehr“ kein Hin­weis auf das Schreib­ex­pe­ri­ment zu fin­den ist. Tut man etwa so, als wäre das ein ganz nor­ma­ler Roman? Ja, das tut man, erklärt Til­man Ramms­tedt dem Mode­ra­tor der Lesung, Lite­ra­tur­pro­fes­sor Axel Dun­ker. Und warum auch nicht? Alle seine bis­he­ri­gen Romane habe er bis jetzt unter gro­ßem Zeit­druck und nur mit einer vagen Grund­idee als Aus­gang ver­fasst. Des­we­gen sei „Mor­gen mehr“ für ihn nicht nur ein Expe­ri­ment, son­dern schlicht und ein­fach sein neuer Roman. Ein Label hätte da nur wie eine Ent­schul­di­gung gewirkt, fin­det der Autor.

Auf dem Weg ins Leben

Dar­aus neh­men wir mit: „Mor­gen mehr“ ist mehr als nur ein Expe­ri­ment; es ist nicht nur seine Ent­ste­hung, son­dern auch ein Werk an sich. Grund genug, einen Blick auf den Inhalt zu wer­fen (bei jedem „nor­ma­len“ Roman hät­ten wir das schließ­lich schon längst getan): Ein Mann mit Lie­bes­kum­mer steht in Frank­furt kurz davor, mit ein­be­to­nier­ten Füßen im Main ver­senkt zu wer­den, wäh­rend sich eine Frau in Mar­seille ein blaues Auge schla­gen lässt. Unge­fähr ist das die Aus­gangs­si­tua­tion, in die der noch unge­zeugte Ich-Erzäh­ler mit sei­ner Geschichte einsetzt.

Wie aus den bei­den Men­schen, die sich noch nicht ein­mal ken­nen, in den nächs­ten 24 Stun­den seine Eltern wer­den, das berich­tet er in „Mor­gen mehr“ auf humor­volle, aber auch tief­grün­dige Weise. Das Erzäh­len selbst ist im Roman sehr aus­ge­stellt, der Erzäh­ler nimmt zum Bei­spiel Bezug auf die Kapi­tel­struk­tur des Tex­tes. Und auch das Impres­sum des Romans (unge­wöhn­li­cher­weise hin­ten zu fin­den) spie­gelt noch die Inhalte. Daran schließt sich ein auf gel­ben Sei­ten gedruck­tes Schalt­ka­pi­tel an, das ähn­lich einer Schalt­se­kunde nach dem Ende wei­tere Infor­ma­tio­nen lie­fert. Der Autor erzählt, er habe damit die Mög­lich­kei­ten der Lite­ra­tur aus­nut­zen und mit ihnen spie­len wol­len und stelle sich damit in die Tra­di­tion von Lau­rence Sterne und anderen.

Die Lesung

In das alles bekam das Publi­kum im Café Ambi­ente durch die zwei­ge­teilte Lesung des Autors einen Ein­blick. Vor­ge­stellt wur­den Sze­nen zum Beginn des Romans, aber auch ein Kapi­tel kurz vor dem gro­ßen Show-Down in Paris, bei dem der Ich-Erzäh­ler bis zur letz­ten Sekunde dar­auf hofft, gezeugt zu wer­den. Die aus­ge­wähl­ten Pas­sa­gen sor­gen für viele Lacher unter den Zuschau­en­den und machen neu­gie­rig. Wäh­rend der gesam­ten Lesung zeigt sich der Autor sehr sym­pa­thisch, reagiert aus­führ­lich auf die Fra­gen des Mode­ra­tors, aber auch auf alle Publi­kums­fra­gen. Eine Lesung sei ja schließ­lich nicht nur eine Ver­kaufs­ver­an­stal­tung, sagt er auf eine Frage. Dass er das beher­zigt hat, zeigt sein Auf­tre­ten im Café Ambiente.

Die Lesung und der Roman von Ramms­tedt machen Lust auf mehr – viel­leicht mor­gen? Hin­ter sei­ner Ent­ste­hungs­ge­schichte braucht sich Til­man Ramms­tedts „Mor­gen mehr“ jeden­falls nicht zu ver­ste­cken. Schön wäre es, wenn er auch von ande­ren nicht kom­plett dahin­ter ver­steckt würde. Auch wenn das nicht so ein­fach ist, Expe­ri­mente sind schließ­lich span­nend! Trotz­dem hät­ten einige Fra­gen mehr zum Roman selbst und einige weni­ger zu des­sen Ent­wick­lung der Lesung wahr­schein­lich nicht geschadet.

Mor­gen mehr. Til­man Ramms­tedt. Han­ser. 2016.

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2 comments

Erzähldetektivin Annette 13. Februar 2017 - 12:47

Sehr schö­ner Text über ein klasse Buch. Mich konn­ten Werk, Autor und Lesung begeis­tern und ich kann „Mor­gen mehr“ jedem ans Herz legen. Für mich auch der Sie­ger der Lite­ra­Tour Nord – wenn es auch ein har­tes Kopf-an-Kopf-Ren­nen mit Bene­dict Wells „Vom Ende der Ein­sam­keit“ war.

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LiteraTour Nord 2016/17: Ein Rückblick – Bücherstadt Kurier 20. März 2017 - 19:32

[…] ähn­li­ch über­schwäng­li­che Pu­bli­kums­re­so­nanz er­zeu­gen wie Ramms­tedts „Mor­gen mehr“. Im An­schluss an sei­ne Le­sung si­gnier­te Wells noch für gut 1 ½ Stun­den die […]

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