Herz hinter Stacheldraht

by Bücherstadt Kurier

Vom Pan­ora­ma­fens­ter aus beob­ach­tet Aki in wei­ter Ferne einen explo­die­ren­den Stern. Bräun­li­che Kome­ten schwei­fen nebst schil­lern­den Par­ti­keln links und rechts an sei­ner Raum­blase vor­bei. Sie erin­nern ihn an die Fisch­schwärme in den Ozea­nen sei­nes Hei­mat­pla­ne­ten, der von den Del­ta­welt­lern gesprengt wor­den war. Seit­her lebt ein klei­nes Grüpp­chen Über­le­ben­der auf dem Genera­tio­nen­raum­schiff Haaaf-O-Noo, das den lila Wesen aus der Del­ta­welt gehört.
Die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Del­ta­welt­lern hat 2103 begon­nen. Aki wühlt in der Schub­lade unter dem run­den Tisch vor dem Pan­ora­ma­fens­ter und nimmt eine alte Erd-Enzy­klo­pä­die zur Hand. Es dürfte das letzte Exem­plar sein. Er muss es vor einer bestimm­ten Frak­tion intel­lek­tu­el­ler Außer­ir­di­scher ver­ber­gen, die sol­che Bücher gern in ihren gehei­men Pri­vat­samm­lun­gen sähen.
Er blät­tert in dem Lexi­kon herum und stoppt auf der Seite des Sternenkrieg-Konflikts.

„Ster­nen­krieg-Kon­flikt“ nennt man die Kon­fron­ta­tion zwi­schen den Macht­ha­bern der Erde und denen vom Pla­ne­ten Delta‑X. Sie ste­hen sich auf­grund inter­stel­la­rer Gebiets­strei­tig­kei­ten feind­lich gegen­über, was zur wech­sel­sei­ti­gen Auf­rüs­tung führt.
Nur durch die Auf­klä­rung aller Bür­ger mit­tels Sprach­kur­sen und neuer, ver­kürz­ter Stu­di­en­gänge in „Extra­ter­res­tri­sche Diplo­ma­tie“ kann der Ster­nen­krieg-Kon­flikt dau­er­haft been­det und eine wei­tere Ver­schär­fung ver­hin­dert werden.

„Wir kom­men in Frie­den!“ — Eine Farce schlecht­hin. Der Satz löst in Aki im Nach­hin­ein noch Bauch­krämpfe aus.
Diese komi­schen Wesen mit ihrer dun­kel-lila schim­mern­den Haut und ihren unschul­di­gen Gesich­tern machen ihn wahn­sin­nig, ihre rie­si­gen schwar­zen Augen, die sie als Waffe ein­set­zen, ekeln ihn an!
Ein­mal musste Aki mit anse­hen, wie ein Lila­ge­sicht einen Men­schen regel­recht zu Tode starrte. Der Mann zit­terte, konnte aber sei­nen Blick nicht von den Augen des Del­ta­welt­lers abwen­den. Danach kam die­ses Ereig­nis in Akis Enklave zur Spra­che. Ihm wurde erklärt, dass die Pupil­len der Lila­nen sich erwei­tern, bis sie das Auge ganz aus­fül­len. Im zwei­ten Schritt set­zen sie das Opfer sei­nen größ­ten Ängs­ten oder schlimms­ten Trau­mata aus. Hor­ror und Grauen stei­gern sich so lange, bis der emo­tio­nale Druck zu viel wird. Was dann pas­siert, hatte Aki live beob­ach­tet. Ihn frös­telt. In sol­chen Momen­ten ver­misst er seine Hei­mat beson­ders. Die Fel­der, den Sta­chel­draht­zaun darum. Klare Regeln.

Die Lila­nen woll­ten ihm ein­re­den, dass er Glück gehabt hatte, weil sie ihm Asyl gewähr­ten. Die Aus­wahl, wer über­lebte und wer mit der Erde unter­ging, oblag dem Delta-X-Ober­haupt. Aki weiß bis heute nicht, wel­che Kri­te­rien zu jener Zeit eine Rolle spiel­ten. Es war nur offen­sicht­lich, dass mehr Afri­ka­ner geret­tet wur­den als Euro­päer, Asia­ten oder Amerikaner.
Aber was ist schon Glück? Damals stand er an einem ähn­li­chen Pan­ora­ma­fens­ter und musste zuse­hen, wie seine Hei­mat, Afrika, ein­fach explo­dierte. Die Trüm­mer der Erde waren tage­lang im All umher geschwebt und hat­ten das Raum­schiff eine Weile begleitet.
Akis Mut­ter steht auf ein­mal in der Raum­blase und ruft ihn: Chuck­wuma. Sanft und ein biss­chen weh­mü­tig. Aki blin­zelt sie schnell weg.
Von eini­gen Del­ta­welt­lern schreit den Men­schen fast nur Ver­ach­tung ent­ge­gen. Viele davon sind extrem gewalt­be­reit. Und das, obwohl die Obrig­keit einer­seits ver­sucht, aus den Neuen gehor­same Del­ta­welt­ler zu machen, ande­rer­seits viel Ein­woh­ner­auf­klä­rung betreibt.
Aki ist froh, ihre Laute schnell erlernt zu haben, denn so kann er nicht nur Wis­sen aus Büchern erlan­gen, son­dern auch die Nach­rich­ten ver­fol­gen. In der Delta News Holo­gramm­zei­tung, die einen nicht gerade gerin­gen Ein­fluss auf die Poli­tik und Gesell­schaft der Del­ta­welt aus­übt, las er jüngst einen auf­schluss­rei­chen Arti­kel. Das Blatt nennt diese Gewalt­akte gegen Men­schen den neuen Prag­ma­tis­mus. Die Erd­men­schen seien den meis­ten Del­ta­welt­lern total egal. Auf einen mehr oder weni­ger käme es nicht an.
Aki selbst hat diese prag­ma­ti­sche Ein­stel­lung selbst zu spü­ren bekom­men, bevor jemand davon in Zei­tun­gen schrieb. Vor ein paar Jah­ren war eine gelie­hene Raum­kap­sel bei einem Aus­flug mit sei­ner Freun­din Yolo kaputt gegan­gen und Aki musste auf einem der ver­teu­fel­ten Delta-X-Monde not­lan­den. Wäh­rend er an der Kap­sel herum schraubte, ging Yolo bis zum nächs­ten Gebäude, um Hilfe zu bekom­men. Die­ses Hilfs­ge­such hatte in einem Laser­strahlstak­kato geen­det, weil der Besit­zer des Grund­stücks sich bedroht fühlte. Aki sah von sei­ner Posi­tion aus, wie die Waffe die Umge­bung erhellte. Er rannte sofort los. „Oh, Gott! Yolo!“ Aki rannte und rannte. Aber als er end­lich an dem Haus ankam, war sie bereits tot. „Warum?“ Er brach neben Yolo zusam­men, nahm sie noch ein letz­tes Mal in die Arme. Den Geruch von ver­brann­tem Fleisch würde er nie ver­ges­sen. Eine Träne läuft ihm über die bart­lose Wange.

Damals, nach Yolos Tod, über­legte Aki, wie man der Drecks­ge­sell­schaft der selbst­ver­lieb­ten Del­ta­welt­ler einen Denk­zet­tel ver­pas­sen könnte. Die Raum­blase hat durch den Blick ins All etwas Macht­vol­les an sich, etwas Gött­li­ches. Aki bekommt hier seine bes­ten Ein­fälle. Am Anfang waren die Geis­tes­blitze eher zufäl­lig und ziem­lich undurch­sich­tig, aber nach einer Weile hat er gelernt, sie rich­tig zu deu­ten. Damit taten sich unge­ahnte Mög­lich­kei­ten auf.
Seit eini­gen Wochen hat er an sei­nem Mas­ter­plan gefeilt. Aki konnte eine durch­aus moti­vierte Gruppe von Erden­brü­dern und ‑schwes­tern dazu über­re­den, ihm zu hel­fen. Er muss natür­lich bei Neu­lin­gen höl­lisch auf­pas­sen, wem er ver­traut. Es dür­fen sich keine Rat­ten zu den kon­spi­ra­ti­ven Tref­fen in der Raum­blase einschleusen.
In den letz­ten Mona­ten hat Aki in diver­sen Enkla­ven ein Netz­werk von revo­lu­tio­nä­ren und – weit­aus wich­ti­ger – gut lenk­ba­ren Kame­ra­den auf­ge­baut, die Bereit­schaft zur Zusam­men­ar­beit zei­gen. Bald schon wird es soweit sein! Zu sei­nem pri­va­ten Jüngs­ten Gericht wer­den sie ver­eint die Kon­troll­zen­tren der Enkla­ven, aber auch andere Unter­künfte ein­fluss­rei­cher Del­ta­welt­ler angrei­fen und blu­tige Auf­stände schü­ren. Aus­ge­mus­terte Laser­ge­wehre sind im Vor­feld gesam­melt und fri­siert wor­den. Ein paar Raum­glei­ter für den Not­fall ste­hen ihnen auch zur Ver­fü­gung. Es kann also tech­nisch so gut wie nichts schief gehen. Sie sind mitt­ler­weile genug Leute, um die Lila­ge­sich­ter zu überwältigen.
Er als sozi­al­psy­cho­lo­gi­sches Genie weiß ganz genau, dass das Eini­gungs­ge­fühl wich­tig für diese Unter­neh­mung ist. Alles muss unter sei­ner Kon­trolle blei­ben. Aki besitzt genü­gend Auto­ri­tät. Wenn der Plan auf­ging, würde er selbst die Macht über­neh­men. Mit ihm an der Spitze des Staa­tes hät­ten die Del­ta­welt­ler keine Extra-Rechte mehr, sie müss­ten selbst in die Enkla­ven­ge­biete und ihre eige­nen Unter­drü­ckungs-Ideen kos­ten. „Ich werde dich rächen, Yolo! Und alle ande­ren unschul­dig Ver­stor­be­nen auch! Dann wer­den sie mir dank­bar sein und -“
Als ein Krat­zen an der Tür hör­bar wird, zuckt Aki zusam­men. Das Erd-Buch! Es muss zurück in die Schub­lade! Gerade, als er die Enzy­klo­pä­die ver­staut hat, fliegt die Tür mit einem lau­ten Kra­chen aus den Angeln. Aki beob­ach­tet kleine Metall­späne, die in Zeit­lupe in den Raum kata­pul­tiert wer­den. Sein Schutz­ort wird abrupt durch Ein­dring­linge ent­weiht und er hat nicht mal eine Waffe zur Verteidigung.
Drei Cyborgs stür­men her­ein. Sie stel­len sich um ihn herum auf und legen ihm ihre mecha­ni­schen Hände auf die Schul­ter. Eine Del­ta­welt­le­rin in einem schnee­wei­ßen Anzug betritt den Raum, bleibt vor Aki ste­hen, betrach­tet ihn einen Moment lang schwei­gend und schüt­telt den Kopf. „Ich hatte gehofft, du wür­dest es lernen.“
Aki weiß, er sitzt in der Falle. Doch wer hatte ihn ver­ra­ten? Der schla­fende Wach­mann konnte unmög­lich wis­sen, wer ihm den Schlüs­sel Woche für Woche für die Raum­blase ent­wen­det. Dafür ist Aki zu vor­sich­tig. Einer sei­ner Kame­ra­den? Wer? Wo hat er nicht auf­ge­passt? Er zwingt sich, ruhig zu bleiben.
„Chuck­wuma …“, beginnt die Lila­frau, wäh­rend Aki auf den Boden starrt. Ihr süß­li­ches Par­füm lässt sei­nen Kopf sofort schmer­zen, doch er muss fokus­siert bleiben.
„Kannst du dir den­ken, warum ich hier bin?“
Er zuckt mit den Schul­tern. Seine Fin­ger ver­kramp­fen sich.
„Möch­test du immer noch den Auf­stand proben?“
Er ver­mei­det es, ihr in die Augen zu sehen und knirscht mit den Zäh­nen. „Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“
Die Del­ta­welt­le­rin seufzt. Einer der ande­ren Typen, ein wirk­lich häss­li­cher Cyborg mit gel­ben Neon­strei­fen an den Armen beugt sich zu ihr hin­über und fragt ble­chern: „Frau Dr. Fryyd, sol­len wir ihm die­selbe Dosis wie immer geben?“
Das Lila­ge­sicht nickt. „Ja, geben Sie ihm die übli­che Menge und erstel­len Sie ein Dia­gramm sei­ner Del­ta­wel­len.“ Sie geht ein Stück vom Tisch weg.
Aki schreit, als die ande­ren Cyborgs ihn fest­hal­ten und der unan­sehn­li­che Dritte die ange­kün­digte Injek­tion in seine Vene spritzt. Die Anzug­frau kommt wie­der näher. Sie starrt ihn unheim­lich an. Das Schwarz ihrer Pupil­len dehnt sich aus.
Kal­ter Schweiß steht Aki auf der Stirn, wäh­rend er sich am Stuhl fest­klam­mert. Ihm ist klar, was nun pas­sie­ren wird: Die Erde explo­diert im Ster­nen­feuer! Wie­der und wie­der und wie­der. Eine Vor­stel­lung der Extra­klasse! Danach wird nur noch Schwärze exis­tie­ren. In sei­nem Her­zen. In sei­nen Gedan­ken. Überall.
Ihre mono­tone Stimme durch­dringt das Chaos, das die Spritze in Akis Kopf hin­ter­las­sen hat. „Bitte bringt ihn zurück auf Sta­tion. Am bes­ten ver­le­gen wir ihn dau­er­haft in die Geschlos­sene. Es muss sicher­ge­stellt wer­den, dass er nicht noch ein wei­te­res Mal ausreißt.“
„Sie wer­den nicht gewin­nen! Meine Freunde hel­fen mir, war­ten Sie es ab, har­ren Sie unse­rem Jüngs­ten Gericht! Die­ses Mal ist es soweit! Sie grei­fen in dem Moment die Enkla­ven an“, platzt es mit letz­ter Kraft aus Aki heraus.
Unsanft wird er von den Cyborgs hoch­ge­stemmt und zum Aus­gang gebracht.
Aki spürt, wie er müder wird.
Fryyd lächelt an der Tür. Sie klopft ihm auf die Schul­ter. „Die­ses Mal nicht, mein Freund, die­ses Mal nicht.“

June Is, Twit­ter: @ypical_writer
Foto: Buch­stap­le­rin Maike

Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 27.

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5 comments

peruru 8. November 2017 - 17:16

Das ist er also. Der Sie­ger­text. Hm. Lei­der sagt er mir per­sön­lich nicht son­der­lich zu, zumal er mehr Fra­gen als Ant­wor­ten hin­ter­lässt. Lei­der pas­siert mir das bei Tex­ten von June öfter.

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100 Bilder - 100 Geschichten: Bild Nr. 28 – Bücherstadt Kurier 9. November 2017 - 13:01

[…] Das neue Bild ist da! Kaum ist der Sie­ger­text „Herz hin­ter Sta­chel­draht” er­schie­nen, geht es gleich in die nächs­te Run­de. Dies­mal ha­ben wir nicht nur ein […]

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Marquis de Ratatouille 9. November 2017 - 21:26

Beklem­mend schön. Ver­dien­ter Sieg!

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The Fan 9. November 2017 - 22:27

Perur deine Aus­sage ist für mich lei­der nicht nach­voll­zieh­bar der Text läd gerade so dazu sein Lust zu bekom­men ein wenig in die sci­ence-fic­tion Welt ein­zu­tau­chen. Ich kann mich hier nur mei­nem Vor­red­ner anschlie­ßen ein abso­lut ver­dien­ter Sieg und ich freue mich mehr davon zu lesen

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Tunnelblick – Bücherstadt Kurier 14. April 2018 - 12:27

[…] Herz hin­ter Stacheldraht […]

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