Ihrer Zeit voraus

by Worteweberin Annika

„Lie­ber Daddy Long Legs“ – so oder so ähn­lich begin­nen die meis­ten der Briefe in Jean Websters gleich­na­mi­gem Brief­ro­man von 1912. Der Klas­si­ker ist jetzt in einer neuen Aus­gabe im Königs­kin­der Ver­lag erschie­nen. Worte­we­be­rin Annika hat sich nicht nur von der herr­li­chen Auf­ma­chung bezau­bern lassen.

Jeru­sha, genannt Judy ist im Wai­sen­haus auf­ge­wach­sen. Eigent­lich sind ihre Aus­sich­ten nicht gerade rosig. Doch dann beschließt einer der Treu­hän­der des Hau­ses, Judy zum Col­lege zu schi­cken, um sie als Schrift­stel­le­rin aus­zu­bil­den! Dafür stellt er aber einige Bedin­gun­gen: Er möchte uner­kannt blei­ben, gibt sich des­we­gen den Namen John Smith, und jeden Monat soll Judy ihm in einem Brief von ihren Fort­schrit­ten berich­ten, den er nicht zu erwi­dern gedenkt. Am Col­lege blüht Judy auf, fin­det neue Freun­din­nen und neues Selbst­ver­trauen, auch wenn ihre Ver­gan­gen­heit ihr manch­mal als Hin­der­nis erscheint.

Ein geheim­nis­vol­ler Gönner

In ihren Brie­fen fin­det Judy einen neuen Namen für Mr. Smith – „Daddy Long Legs“ nach den Weber­knech­ten, die so lange Beine haben, wie der Mann, auf den sie nur einen kur­zen Blick erha­schen konnte. Die­ser Herr Lang­bein wird Judys Fami­li­en­er­satz und Ver­trau­ter, auch wenn er nicht einen der stür­mi­schen, humor- und gefühl­vol­len Brie­fen beantwortet.

Span­nung ent­steht im Roman vor allem dadurch, dass die Iden­ti­tät des Treu­hän­ders fast bis zum Schluss unge­wiss bleibt. Aus der Warte des (erfah­re­nen) Lesen­den kann man einige Ver­mu­tun­gen und Bezüge her­stel­len, die Judy ver­bor­gen blei­ben. Doch auch wenn Mr. Long Legs ein Rät­sel dar­stellt, geht es im Roman haupt­säch­lich um Judy. Als Mit­le­sende der Briefe kann man Judys Emp­fin­dun­gen und ihre Ent­wick­lung zu einer star­ken Frau mit­ver­fol­gen. Mal blickt sie iro­nisch auf das Leben, mal sehr weise, und so liest sich „Lie­ber Daddy Long Legs“ sehr abwechslungsreich:

„Ich habe beschlos­sen, mich am Weges­rand nie­der­zu­las­sen und einen gro­ßen Berg klei­ner Glücks­mo­mente anzu­häu­fen, selbst wenn ich dabei nie eine große Schrift­stel­le­rin werde.“

Eine starke Frauenfigur

Jean Webs­ter (1876 – 1916) war eine ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­lis­tin und Schrift­stel­le­rin, die sich in ihren Roma­nen vor allem an junge Frauen rich­tete, wie auch in ihrem bekann­tes­ten, „Lie­ber Daddy Long Legs“. Ihre Texte sind oft sozi­al­kri­tisch und spie­geln ein moder­nes Frau­en­bild, so dass sie auch heute noch gut unter­hal­ten. Das zeigt sich an der Prot­ago­nis­tin Judy, die sehr lebens­echt gezeich­net ist. Sie hält sich nicht immer an die Regeln, die Daddy Long Legs ihr auf­er­legt, tritt für das Wahl­recht von Frauen ein und ihr wer­den auch einige schlechte Eigen­schaf­ten zuge­stan­den. Viele ihrer Aus­sa­gen sind ihrer Zeit vor­aus und begeis­tern auch deswegen.

Die Neu­auf­lage von „Lie­ber Daddy Long Legs“ ist ein wah­res Pracht­stück. Das neue Kleid, das der Königs­kin­der Ver­lag dem alten Text geschnei­dert hat, über­zeugt durch eine schöne flo­rale Umschlag­ge­stal­tung. Und auch die Illus­tra­tio­nen von Franz Ren­ger, die immer wie­der in Judys Briefe ein­ge­floch­ten sind, sind her­vor­zu­he­ben. Sie fan­gen den lus­ti­gen Ton der Briefe wun­der­bar ein und geben der Erzäh­le­rin ein Gesicht.

Und noch ein lite­ra­ri­scher Fun-Fakt zu „Lie­ber Daddy Long Legs“: Auf Schwe­disch hei­ßen der Roman und die Figur „Pappa Lång­ben“. Ein Name, der wahr­schein­lich Astrid Lind­grens Toch­ter Kers­tin zum Namen „Pippi Långstrump“ inspi­rierte – einer wei­te­ren im wahrs­ten Sinne star­ken Frauenfigur!

Lie­ber Daddy Long Legs. Jean Webs­ter. Aus dem Eng­li­schen von Ingo Herzke. Mit Illus­tra­tio­nen von Franz Ren­ger. Königs­kin­der Ver­lag. 2017.

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