Im Nebel

by Bücherstadt Kurier

Sie berührte die Blät­ter nur ganz sanft, doch die schwe­ren Tau­trop­fen lös­ten sich ohne Wider­stand, ran­nen ihre schma­len Fin­ger hin­un­ter und sam­mel­ten sich in ihrer Hand zu einem win­zi­gen, glas­kla­ren Gewäs­ser. Sie betrach­tete ihr Gesicht darin und wun­derte sich über das glück­se­lige Strah­len in ihren Augen. Über­mü­tig ver­senkte sie ihr Gesicht in dem jung­fräu­li­chen Was­ser und trank.
Sie konnte nicht sagen, ob die­ses Was­ser das reinste war, das sie jemals getrun­ken hatte, sie wusste nicht ob es beson­ders gesund war oder beson­ders erfri­schend. Aber sie hatte noch nie etwas getrun­ken, das ihren Durst ebenso gestillt hätte. Sie hatte kein beson­de­res Ver­lan­gen nach Was­ser ver­spürt. Dies­mal hatte sie nicht getrun­ken, um ihren Kör­per zu näh­ren. Es war der Durst nach Leben, der sie nach den Tau­trop­fen hatte grei­fen las­sen. Der Durst einer aus­ge­dörr­ten Seele in der unend­li­chen Wüste der Rou­tine. Er war kaum gestillt und doch fühlte sie sich sofort wacher, dem Kind nahe, das vor lan­ger Zeit noch vol­ler Vor­freude vom Leben geträumt hatte. Aus dem das ent­täuschte, ver­wirrte Wesen gewor­den war, das sie all die Jahre in ihrem Inne­ren ein­ge­sperrt hatte. Nicht aus Boshaftigkeit.

Es war ihre Seele, die litt. Und eben darum hatte sie das unschul­dige Ding ein­ker­kern müs­sen, um das Schreien nicht mehr zu hören. Das Schreien nach Frei­heit. Sie hatte sich abge­wandt, um wei­ter zu funk­tio­nie­ren. Um jeden Tag auf­ste­hen zu kön­nen und ein Leben zu füh­ren, in das sie unbe­dacht hin­ein gestol­pert war, das sie nicht mehr gehen ließ. Sie hatte die Ohren ver­schlos­sen, um nicht das lei­ser wer­dende Jam­mern hören zu müs­sen, obwohl ihr so klar war, dass sie zer­bre­chen würde, sollte der unschul­dige Träu­mer schließ­lich auf­ge­ben und verstummen.
Doch ihre Wün­sche waren nicht ver­gan­gen. Der Träu­mer war nicht gebro­chen in einer grauen Welt erwacht. Sie hatte das Schreien igno­riert, bis es ver­klun­gen war. Trotz­dem hatte ihre aus­ge­dörrte Seele nie auf­ge­ben. Stumm und stur hatte sie abge­war­tet, hatte dar­auf gewar­tet, dass Zeit und Unacht­sam­keit die Fes­seln lockern wür­den. Die Rou­tine hatte ihr Augen und Herz ver­schlos­sen, bis sie den Zucker des Kuchens nicht mehr schmeckte, ihn nur noch aß, um ihren Kör­per funk­ti­ons­tüch­tig zu halten.

Es war nur ein Auf­trag gewe­sen. Ein Flug in ein frem­des Land. Kein Gedanke an diese neue, auf­re­gende Welt. Pflicht­be­wusst an die Zukunft den­ken. Sicher­heit. Die gestell­ten Auf­ga­ben erle­di­gen. Gesprä­che füh­ren. Ver­träge schlie­ßen. Geld ver­die­nen. Sich absi­chern. Sich bewei­sen. Auf­stei­gen. Wohin? Doch sie war noch kaum mit einem Bein aus dem Flug­zeug her­aus getre­ten, da hatte es in ihr einen Auf­schrei gege­ben. Die mor­schen Rie­gel waren gebro­chen, der Staub der Jahre auf­ge­wir­belt. Und der Träu­mer jubelnd erwacht.
End­lich frei­ge­setzt hatte sich das Kind nicht mehr fan­gen las­sen. Wild hatte es alles auf­ge­so­gen. Hatte gestaunt über das unend­lich tiefe Blau des Him­mels, die schwe­ren Gerü­che in der Luft, die feuchte Hitze, die sich sofort an jedem Neu­an­kömm­ling fest­setzte, um ihm auf Schritt und Tritt zu fol­gen. Quen­gelnd hatte das Kind die Pflich­ten abge­ses­sen, um sich dann in die Menge zu wer­fen. Es hatte geges­sen und getrun­ken und jeden neuen Geschmack quiet­schend will­kom­men gehei­ßen. Schließ­lich hatte sie gehen müs­sen, war dem Ruf gefolgt, aber der Ker­ker war zer­bors­ten. Der Träu­mer hatte sich befreit und nährte sie lebens­hung­rig mit Wün­schen, bis sie erneut nach­gab, um noch ein­mal das Auf­la­chen des Kin­des zu hören.

Sie tauchte lächelnd aus ihren Erin­ne­run­gen auf, spürte die Feuch­tig­keit auf ihrer Haut, wie der leichte Wind freund­lich ihre Haare zauste. Sie beob­ach­tete wie die Nebel sich lang­sam hoben und eine atem­be­rau­bende Land­schaft geba­ren, so still und doch vol­ler Leben. Sie fühlte sich klein und unwich­tig. Doch zum ers­ten Mal war es ein gutes Gefühl. Sie war Teil einer gewal­ti­gen Welt, ange­kom­men an einem Ort, der ihr Leben lang auf sie gewar­tet hatte. Sie trat an den Rand der Fel­sen und blickte über das satte Grün des Blät­ter­mee­res in die Ferne. Lang­sam erwachte das Leben um sie herum. Sie blieb still ste­hen, lauschte auf die fremd­ar­ti­gen Geräu­sche um sich her und spürte wie das befreite Kind stumm in die Welt blickte, sich schließ­lich fried­lich in ihrem Inne­ren zusam­men­rollte und zum ers­ten Mal seit lan­ger Zeit erfüllt einschlief.

Vari­nia König
Foto: Marco
Ein Bei­trag zum Schreib-Pro­jekt “100 Bil­der – 100 Geschich­ten“.

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