In der Nacht

by Bücherstadt Kurier

„Über die Brü­cke!“, war es, was da klang im Däm­mer­licht. Und das Echo der fle­hent­li­chen Bitte „Ich möchte es halt gar zu gern!“ nur als dump­fer Hall auf die gegen­über­lie­gende Seite der Brü­cke drang.
„Halt! Wer da?“, schallt es aus der Dun­kel­heit. Und in glei­cher Weise: „Was ist dein Begeh­ren?“ Gespens­tisch ist es anzu­hö­ren. „Über die Brü­cke! Über die Brü­cke will ich gehen!“ Erneut wird die Stimme des Ver­zwei­fel­ten laut.

„Halt! Nicht wei­ter!“ Der uner­bitt­li­che Ruf lässt ihn still­ste­hen, und befiehlt ihm: „Harre aus!“
„Wie lange noch?“ Ver­zagt­heit brei­tet sich aus, und eine dunkle Ahnung steigt in ihm auf. Dann die nie­der­schmet­ternde Ant­wort: „Begehre nicht auf!“
Die Nebel­glo­cke lich­tet sich, ein Sil­ber­strei­fen am Hori­zont ihm Anlass zur Hoff­nung gibt. Kräf­tig im Ton spricht er es in die Düs­ter­nis: „Meine Bekannt­schaft mit dir währt schon lange. Ich fürchte dich nicht! – Der Däm­mer­schein lässt mich auf die andere Seite der Brü­cke schauen!“ „Dass du es nur weißt! Ich gebe nicht auf!“
Da klingt’s aus der Fins­ter­nis her wie ein schril­ler Schrei. Und weit­hin hör­bar die For­de­rung zu ihm dringt: „Du schul­dest mir noch tau­send! Bring sie mir, dann kannst auch du hin­über auf die andere Seite gehen! Dann bist du frei!“ „Wie viel sol­len es noch sein? Hab ich dir nicht schon genug gebracht, um end­gül­tig diese Brü­cke zu über­schrei­ten? Ein­mal muss es vor­bei sein!“ Von sei­nem Wun­sche beseelt, ist er zu allem bereit.

All sein Sin­nen und Trach­ten ist dar­auf gerich­tet frei zu sein. Und wie­der hört er: „Harre aus!“ Und durch sein Bit­ten nicht gerührt: „Dein Begeh­ren ist mir so ver­traut wie das Atmen der Erde. Ich halte hier die Wacht!“ Sein Gegen­über ihm unnach­gie­big erwi­dert: „Ich lasse dich nicht hin­über!“ „Über die Brü­cke!“ Sein Ton schwillt an. Der Wind säu­selt in den Blät­tern, am düs­te­ren Ort. „Über die Brü­cke will ich gehen, dunk­ler Gefährte, Freund der Nacht! Aber­mals erhebe ich meine Stimme unter der Jahr­hun­derte schwe­ren Last. Ich bitte dich, gib den Weg frei! Lass auch mich über die Brü­cke gehen! Dort drü­ben herrscht tie­fer Frie­den! Bald, sehr bald, will auch ich ruhen!“
„Geh weg von hier!“, schallt es von der ande­ren Seite her­über. „Und tu es, ich rate dir gut!“
„Fins­te­rer Geselle, willst du mir dro­hen? Was hab ich noch zu befürch­ten? Ich bin bereits tot!“
„Die Unsterb­lich­keit! Die Unsterb­lich­keit fürch­test du, das weiß ich wohl!“
Ein Sturm bricht los, die Erde bebt, der Regen peitscht die Bäume, und der Fluss über seine Ufer tritt. Der Hieb hat geses­sen. Ihm ist so, als spüre er noch ein­mal das Beil, durch das er sei­ner­zeit den Tod fand. Als See­len­samm­ler er seit die­ser Zeit im Zwi­schen­reich weilt. „Hier währt eine Stunde so lange, wie im Dies­seits ein gan­zes Jahr­hun­dert. Ins Schat­ten­reich will ich gehen! Jen­seits der Brü­cke finde ich Ruh!“
„Kein Weg führt an mir vor­bei! Ich halte hier die Wacht!“
Erneut hallt es durch die Fins­ter­nis: „Bring mir noch tau­send, rein und leicht wie der Schnee im Wind sol­len sie sein! Dann wirst auch du hin­über auf die andere Seite gehen und ewig ruhen!“
„So muss ich wei­ter in einem Reich zwi­schen zwei ande­ren Rei­chen wan­dern und See­len sam­meln. Noch genau tau­send an der Zahl, rein und leicht wie der Schnee im Wind sol­len sie sein. Dann bin ich frei! Und jen­seits der Brü­cke will ich ewig­lich ruhen! Jahr­hun­derte im Zwi­schen­reich, Leben und Tod lie­gen dicht bei­ein­an­der und dazwi­schen ist Ewigkeit!“

Susanne Ulrike Maria Albrecht
Ein Bei­trag zum Schreib-Pro­jekt „100 Bil­der – 100 Geschich­ten“.

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