In Zeiten der Bescherung #litadvent

by Bücherstadt Kurier

Nina saß vor dem Ein­gang des Super­markts am Orts­rand von N. auf einer Pappe und guckte umher. Sie regis­trierte zwar eine recht große Anzahl von Kun­den, die am Vor­mit­tag die­ses 24. Dezem­ber noch Ein­käufe erle­di­gen woll­ten. Doch viel zu wenige hat­ten bis­her etwas Geld in den Becher der jun­gen Frau gewor­fen. Ihr Hund Jimmy, ein klei­ner Halb-Peki­nese mit röt­li­chem Fell, schlum­merte indes­sen unbe­küm­mert in Ninas Schoß.

Auf ein­mal fiel ihr Blick auf den Grün­strei­fen, der jen­seits des Park­plat­zes vor dem Super­markt lag, zwi­schen der Straße und einem Fuß­weg. Ein grü­nes Band inmit­ten von Beton und Stein. Das tröst­li­che Grün aber nur sicht­bar auf­grund eines wei­te­ren schnee­lo­sen Weih­nachts­ta­ges. Dort, auf dem biss­chen Gras neben dem Ein­gang zum Park­platz, viel­leicht 20 Meter von Nina ent­fernt, hielt ein Motor­rad an, von dem ein mar­kan­ter Typ abstieg. Nicht allzu groß, aber kräf­tig wir­kend, mit einem dunk­len Schnauz­bart wie ein Wal­ross, die Enden rechts und links des Mun­des. Dazu eine schwarze Leder­mon­tur. Nach dem Abset­zen des mit roten und wei­ßen Strei­fen ver­se­he­nen schwar­zen Hel­mes waren kurze, dunkle, an den Schlä­fen graue Haare zu sehen. Er ließ das Motor­rad ste­hen und ging auf den Super­markt zu.

Wäh­rend er näher kam, hatte Nina Gele­gen­heit, ihn ver­stoh­len zu mus­tern. Das Gesicht war nar­big, die schma­len Augen von küh­lem Grau, er wirkte wenig ver­trau­en­er­we­ckend. Ein kur­zer Blick in Ninas Rich­tung, ein Griff zum Mund­na­sen­schutz, dann betrat der Motor­rad­fah­rer den Markt.

Ninas Gedan­ken began­nen zurück in die Ver­gan­gen­heit zu wan­dern, als ihr Vater eben­falls ein Motor­rad beses­sen hatte. Der hatte auch graue Augen gehabt, ihr bewun­der­ter, lie­be­vol­ler, für­sorg­li­cher Papa, der Gegen­part zu ihrer küh­len, abwei­sen­den Mut­ter. Doch er war gestor­ben, als sie in der ach­ten Klasse gewe­sen war, und damit hatte ihr altes Leben auf­ge­hört. Sie hatte Schwie­rig­kei­ten in der Schule bekom­men, das Gym­na­sium in der Folge ver­las­sen, sich dann wie­der halb­wegs gefan­gen und auf einer Gesamt­schule immer­hin den Real­schul­ab­schluss geschafft. Ihr Vater aber hatte sich gewünscht, dass sie Abitur machte und spä­ter studierte ...

Der neue Part­ner ihrer Mut­ter hatte sie zwar in Ruhe gelas­sen, aber es war klar, dass sie nur störte. Die Aus­bil­dung im Ein­zel­han­del ein Desas­ter mit Kün­di­gung, weil sie sich von einem Vor­ge­setz­ten nicht hatte betat­schen las­sen und ihm eine Ohr­feige ver­passt hatte. Dar­auf­hin in einer Kneipe gekell­nert und in einer WG gewohnt, bevor sie sich end­gül­tig davon­ge­macht hatte.

Und jetzt war bedingt durch Corona kein Platz mehr bei dem Wan­der­zir­kus, dem sie sich vor drei Jah­ren ange­schlos­sen hatte. Bedau­ernd hatte die Direk­to­rin ihr mit­tei­len müs­sen, dass sie lei­der nichts ande­res machen konnte, als sich von Nina zu tren­nen, die Lage sei zu kri­tisch. Kein Geld zu Weih­nach­ten, keine Hoff­nung, statt­des­sen saß sie hier, unten ange­kom­men, für ein paar Tage hatte sie noch einen Schlaf­platz in einem der Zir­kus­wa­gen, bis die ande­ren weiterzogen ...

Auf ein­mal wurde Nina aus ihren Gedan­ken geris­sen. Auch Jimmy hob den Kopf und begann zu knur­ren, denn drei Jungs, viel­leicht 15 Jahre alt, tauch­ten unver­mit­telt auf. Der eine bereits rich­tig groß und kräf­tig, die bei­den ande­ren aber auch schon ziem­lich ent­wi­ckelt, laut, her­aus­for­dernd, wohl auf Ärger aus. Im Gegen­satz zu Nina tru­gen sie kei­nen Mundnasenschutz.

Nina ver­suchte unbe­tei­ligt zu tun, als die drei die schmäch­tige Bett­le­rin mit den kur­zen brau­nen Haa­ren, der Armee­ja­cke und dem Hund als Ziel ihrer Späße aus­zu­ma­chen began­nen. Doch es fiel ihr schwer, Ruhe zu bewah­ren, wäh­rend sie Jimmy am Hals­band fest­hielt. „Sieh an, was haben wir denn da? Eine Schnor­re­rin!“ Das kam von dem kleins­ten der drei, wohl dem Anfüh­rer, trotz sei­ner jun­gen Jahre irgend­wie ver­kom­men wir­kend, mit einem hämi­schen Zug im Gesicht. Die ande­ren bei­den grins­ten, ohne sich um die Pas­san­ten zu sche­ren, die an ihren Ein­käu­fen inter­es­siert waren und nicht an der Bett­le­rin und den drei Her­an­wach­sen­den, die sich jetzt vor Nina und Jimmy aufbauten.

Jim­mys Knur­ren wurde inten­si­ver, wäh­rend es Nina, obwohl lebens­er­fah­ren genug, lang­sam mul­mig wurde. Der Anfüh­rer stampfte direkt vor Nina mit dem Fuß auf den Boden, was Jimmy so rich­tig ver­är­gerte. Die drei Typen lach­ten wäh­rend­des­sen nur über Jim­mys dro­hen­des Knur­ren, der von Nina nur mit Mühe fest­ge­hal­ten wurde.

Plötz­lich jedoch tauchte der Motor­rad­fah­rer auf und stellte sich neben Nina und ihren Hund, immer noch den Mund­schutz vom Ein­kau­fen auf, eine Stoff­ta­sche bau­melte von der einen Hand. Das Lachen der drei erstarb. Der Biker machte nichts, schaute den Wort­füh­rer aus sei­nen grauen Augen ein­fach nur an. Der wurde ner­vös, blickte zu den bei­den ande­ren hin­über, die aber ganz offen­sicht­lich auf ein­mal keine Nei­gung mehr ver­spür­ten, sich hier noch län­ger auf­zu­hal­ten. Der Motor­rad­fah­rer wirkte zu selbst­si­cher, zu stark, seine Aus­strah­lung reichte aus, um die drei zu ver­un­si­chern. So wand­ten sie sich ab und zogen klein­laut von dan­nen, ein Anblick, der Nina unter ihrem Mund­na­sen­schutz zum Lächeln brachte. Dank­bar guckte sie hoch zu dem Biker, wäh­rend sie Jim­mys Hals­band losließ.

Der wurde nun kin­disch und begann nach dem Schnür­sen­kel am lin­ken Stie­fel des Motor­rad­fah­rers zu schnap­pen. Der Biker grinste, zog seine Hand­schuhe aus, beugte sich hin­un­ter, so dass auf ein­mal ein klei­nes höl­zer­nes Kreuz von sei­nem Hals nach unten hing. Er stupste den Hund zurück, um die Schnür­sen­kel rich­tig zuzu­bin­den. Jimmy fand das natür­lich lus­tig, ließ sich nicht beir­ren und begann erneut nach dem Schnür­sen­kel zu schnap­pen, bis Nina ihn wie­der am Hals­band erwischte und der Motor­rad­fah­rer end­lich ordent­lich den Stie­fel zubin­den konnte.

Nach­dem er sich wie­der auf­ge­rich­tet hatte, schob der Biker den lin­ken Ärmel hoch, um sich den Unter­arm zu rei­ben, viel­leicht war etwas ver­spannt. Als er damit auf­ge­hört hatte, war deut­lich ein Tat­too auf dem Arm sicht­bar, das Nina inter­es­siert betrach­tete. Eine sti­li­sierte Flamme und drei Worte: Legio Patria Nos­tra. Nina erin­nerte sich an ihre Gym­na­si­al­zeit, die paar Jahre Latein reich­ten aus, um die Worte zu über­set­zen: Die Legion (ist) unser Vater­land. Der Biker hatte ihren Blick bemerkt und sagte mit über­ra­schend sanf­ter Stimme: „Ich war mal Sol­dat. Daher das Tat­too.“ „Aha“, ent­geg­nete Nina, nicht wis­send, dass es sich bei den drei Wor­ten um das Motto der fran­zö­si­schen Frem­den­le­gion handelte ...

„Jetzt bin ich aber nicht mehr beim Mili­tär, dort bei der Kir­che ist jetzt meine Hei­mat“ – er wies zu dem Kirch­turm hin­über, der sich viel­leicht einen hal­ben Kilo­me­ter ent­fernt erhob – „Ich bin da Fried­hofs­gärt­ner.“ Nina nickte ver­ste­hend, wäh­rend der Biker sie nach­denk­lich betrach­tete. Dann fuhr er fort: „Heute Abend ist in der Kir­che Got­tes­dienst, aber wegen Corona gibt es da Beschrän­kun­gen und ich weiß nicht, ob das was für dich ist. Aber ab Mitte Januar ist ein Prak­ti­kums­platz als Gärt­ner oder Gärt­ne­rin frei ...“ Ninas grüne Augen wei­te­ten sich, sie begriff.

Der Fried­hofs­gärt­ner zog einen Zet­tel und einen Kuli aus der Innen­ta­sche sei­ner Leder­ja­cke, krit­zelte Name und Adresse dar­auf und reichte ihn ihr. Immer noch fast fas­sungs­los, bei­nahe mecha­nisch, nahm Nina den Zet­tel ent­ge­gen, wäh­rend der Biker – Daniel hieß er also – fragte „Wie heißt ihr beide über­haupt?“ „Das ist Jimmy, und ich bin Nina.“ „O.k., Nina und Jimmy, macht Fei­er­abend. Rich­tig viel ist es nicht, aber es dürfte erst mal rei­chen. Frohe Weih­nach­ten.“ Er griff erneut in die Innen­ta­sche sei­ner Jacke und zog einen Zwan­zi­ger her­vor, den er der erstaun­ten Nina in die mecha­nisch zugrei­fende Hand drückte. „D... danke“, stam­melte sie. Daniel nickte und sagte: „Gern gesche­hen“, strei­chelte Jimmy kurz den Kopf und salu­tierte dann vor­schrifts­mä­ßig auf mili­tä­ri­sche Art, dabei aber ein Auge zusam­men­knei­fend. Dann ging er zu sei­nem Motor­rad auf dem Grün­strei­fen, die­sem grü­nen Band, das Nina auf ein­mal eine Art Ver­hei­ßung zu sein schien, stieg auf und fuhr davon ...

Text: Stadt­be­su­cher Jür­gen Rösch-Brassovan
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

Über den Autor:
*1966, Stu­dium Geschichte/Politik, ver­hei­ra­tet, ein Sohn. Ver­öf­fent­li­chun­gen im Inter­net (u.a.): Bücher­stadt Kurier – Lite­ra­ri­scher Advent 2016, 2017, 2018, 2019. 1001buch – Lite­ra­ri­scher Advent 2014 (Audio­ver­sion einer Kurz­ge­schichte). Ver­öf­fent­li­chun­gen in gedruck­ter Form: Kurz­ge­schich­ten in diver­sen Antho­lo­gien (z.B. „Es geschah zu Hal­lo­ween“, net-Ver­lag, erschie­nen 2019).

Ein CLUE-Bei­trag zum Spe­cial #lit­ad­vent. In die­sem Jahr haben wir drei Clues vor­ge­ge­ben, die in den krea­ti­ven Tex­ten auf­tau­chen soll­ten: Tat­too, Schnür­sen­kel, Grün­strei­fen. Was sich die AutorIn­nen aus­ge­dacht haben, könnt ihr hier lesen.

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