Jörg Bernardy im Interview #Kunterbunt

by Worteweberin Annika

„Zur Viel­falt gehört auch, selbst viel­fäl­tig zu wer­den und die Viel­falt in sich zu ent­de­cken. Viel­falt leben meint somit, dass man sich selbst und andere dabei unter­stützt, die eigene Viel­falt zu entwickeln.“

Män­ner, Frauen, Men­schen, inter‑, trans-… Was ist eigent­lich Iden­ti­tät und was hat das Geschlecht damit zu tun? Worte­we­be­rin Annika hat mit Jörg Ber­nardy, dem Autor von „Mann Frau Mensch“, dar­über gespro­chen, wie Geschlech­terkli­schees ent­ste­hen, wie man in mög­lichst wenig Fett­näpf­chen tritt und ob er als Frau das glei­che Buch geschrie­ben hätte.

BK: Herr Ber­nardy, viel­leicht erst ein­mal vor­weg: Haben Sie sich heute eigent­lich schon als Mann gefühlt?

JB: Ich habe mich heute schon leben­dig gefühlt, jetzt gerade in die­sem Moment bin ich nach­denk­lich, aber als Mann habe ich mich heute noch nicht gefühlt. Ich bin mir zwar bewusst, dass ich als Mann wahr­ge­nom­men werde und könnte jetzt auch auf­zäh­len, was wir in unse­rer Gesell­schaft alles als typisch männ­lich defi­nie­ren. Aber ich könnte jetzt nicht sagen, dass Männ­lich­keit für mich ein Gefühl ist.

BK: Man könnte ja mei­nen, das Geschlecht wäre durch bio­lo­gi­sche Fak­to­ren bestimmt. Was bedeu­tet das denn dann eigent­lich, sich als Mann oder Frau zu fühlen?

JB: Seit die­sem Buch werde ich viel häu­fi­ger damit kon­fron­tiert, dass ich ein Mann bin und von ande­ren auch so wahr­ge­nom­men werde. Aber das sagt ja im Grunde über­haupt nichts dar­über aus, wie männ­lich ich mich fühle. Übri­gens war genau das auch die Aus­gangs­frage für das Buch. Es gab einen ent­schei­den­den Augen­blick in einem mei­ner Semi­nare am Design Depart­ment der HAW Ham­burg. Zusam­men mit unge­fähr 45 Stu­die­ren­den stellte ich mir die Frage, was eigent­lich die indi­vi­du­elle Geschlechts­iden­ti­tät aus­macht. Dabei woll­ten wir auch ganz kon­kret her­aus­fin­den, wie sich das eigene Ich anfühlt und was man daran genau als weib­lich oder männ­lich empfindet.

Unsere geteil­ten Erfah­run­gen und Erleb­nisse waren erstaun­lich: Den meis­ten war es fast gar nicht mög­lich, ihr Ich-Gefühl genauer zu beschrei­ben und schon gar nicht, was daran nun eigent­lich weib­lich oder männ­lich sein sollte. Zwar defi­nier­ten sich die meis­ten als ent­we­der Mann oder Frau, aber gleich­zei­tig gaben die meis­ten an, dass sie sich über­wie­gend neu­tral erle­ben. Diese Erfah­rung war des­halb so augen­öff­nend und berei­chernd für uns alle, weil es uns plötz­lich so nor­mal vor­kam. Ich glaube, dass es eine sehr ver­bin­dende Erfah­rung war und der Auf­takt zu einem sehr pro­duk­ti­ven Theo­rie-Semi­nar mit inten­si­ven Aus­ein­an­der­set­zun­gen und Diskussionen.

BK: Kön­nen Sie kurz erklä­ren, wie das soge­nannte soziale Geschlecht entsteht?

JB: Das soziale Geschlecht ist ein Teil unse­rer Iden­ti­tät und ent­wi­ckelt sich durch äußere Ein­flüsse. Letzt­lich ist es eine sehr all­täg­li­che Sache, denn wie man aus­sieht, wie man geht, lacht und wel­che Hob­bies man hat, wird als weib­li­ches oder männ­li­ches Ver­hal­ten bewer­tet. Erst mit zwei Jah­ren ver­ste­hen sich Kin­der als Mäd­chen oder Jun­gen. Das soziale Geschlecht und die sozia­len Rol­len, die wir im Leben ein­neh­men, wer­den also zu einem gro­ßen Teil erlernt. All­ge­mein unter­schei­det man drei Ebe­nen, die das Geschlecht von jedem Men­schen wesent­lich aus­ma­chen: die bio­lo­gi­sche, die soziale und die gefühlte, also sub­jek­tiv erlebte Ebene. Alle drei haben einen Ein­fluss dar­auf, wie man sich fühlt, sich selbst und auch andere wahr­nimmt. Das soziale Geschlecht ist nichts, womit wir ein­fach so gebo­ren werden.

BK: Was für Mög­lich­kei­ten gibt es, Geschlech­terkli­schees wie „Jun­gen wei­nen nicht“ oder „Mäd­chen mögen Schminke“ zu vermeiden?

JB: Die Mög­lich­kei­ten sind wahr­schein­lich genauso viel­fäl­tig wie die Gesell­schaft selbst. Am wich­tigs­ten scheint mir, dass man bereits als Kind lernt, was ein Geschlech­terkli­schee ist, was es bedeu­tet und wie es funk­tio­niert. Denn noch immer wer­den Kin­dern je nach Geschlecht unter­schied­li­che Inter­es­sen und Ver­hal­tens­wei­sen zuge­schrie­ben. Mäd­chen wer­den bei­spiels­weise häu­fig mit Wor­ten wie „schick“ oder „süß“ gelobt, Jun­gen bekom­men hin­ge­gen Kom­pli­mente für ihre Aben­teu­er­lust und ihren Mut.

Um diese unglei­che Bewer­tung zu ver­mei­den, kann man Kli­schees und Ste­reo­ty­pen zum Bei­spiel neu­tra­li­sie­ren. Die llus­tra­to­rin Karin Lub­enau ver­folgt bei­spiels­weise mit ihrer Serie „Mit ohne Rosa“ das Ziel, die Farbe Rosa zu neu­tra­li­sie­ren. Wie das gehen soll? Rosa soll eine neu­trale Farbe wer­den, die auch mal schmut­zig wer­den darf und eine Fee darf dann auch mal voll Kara­cho durch die Pfütze sprin­gen. Neu­tra­li­sie­ren bedeu­tet nicht, gar nicht mehr zu bewer­ten oder alle gleich zu bewer­ten. Es geht dabei um eine Neu­be­wer­tung und um das Bewusst­sein, dass Eigen­schaf­ten ambi­va­lent sind und je nach Geschlecht und Per­son unter­schied­lich bewer­tet und inter­pre­tiert wer­den. Das Ideal beim Neu­tra­li­sie­ren von Bewer­tun­gen wäre, dass Kin­der so frei wie mög­lich von fest­ge­leg­ten und vor­ge­ge­be­nen Rol­len­bil­dern auf­wach­sen können.

BK: Im Schwe­di­schen gibt es das geschlechts­neu­trale Per­so­nal­pro­no­men hen, eine Mischung aus hon (sie) und han (er), das in den 60er Jah­ren erst­mals auf­tauchte. Sind sol­che sprach­li­chen Kon­struk­tio­nen Ihrer Mei­nung nach hilf­reich für die Wahr­neh­mung von Geschlecht in der Gesellschaft?

JB: Ja, aber nicht jeder Ein­griff in Spra­che ist sinn­voll. Das schwe­di­sche Per­so­nal­pro­no­men hen ist hilf­reich und not­wen­dig, weil es deut­lich macht, dass unsere Ein­tei­lung in zwei Geschlech­ter nicht so selbst­ver­ständ­lich ist wie gedacht. Mann und Frau sind Kate­go­rien, aber sie bil­den nur sehr grob und ver­ein­facht unsere bio­lo­gi­sche, soziale und sub­jek­tiv erlebte Wirk­lich­keit ab. Des­we­gen benö­ti­gen wir als Gesell­schaft auch neue Kate­go­rien und sprach­li­che Kon­struk­tio­nen, die unser Ver­ständ­nis von „Geschlecht“ erweitern.

Wenn sprach­li­che Kon­struk­tio­nen das schaf­fen, wird unser Blick dif­fe­ren­zier­ter und es wird uns irgend­wann mög­lich sein, geschlechts­über­grei­fend zu füh­len, den­ken und han­deln. Sprach­li­che Kon­struk­tio­nen kön­nen den Blick näm­lich auch ver­en­gen und zu sehr auf einen Teil­aspekt fokus­sie­ren. Die Wahr­neh­mung von Geschlecht sollte nicht dazu füh­ren, dass wir das große Ganze aus dem Blick ver­lie­ren. Wir brau­chen in die­sem Sinne mehr sprach­li­che Kon­struk­tio­nen, die eine geschlechts­über­grei­fende Per­spek­tive in den All­tag brin­gen und das geht nur über öffent­li­che, recht­li­che und mediale Kommunikation.

BK: Machen sprach­li­che Kon­struk­tio­nen es nicht gleich­zei­tig auch immer schwie­ri­ger zu kommunizieren?

JB: Spra­che ist ver­füh­re­risch. Einer­seits lässt sie die Unter­schiede zwi­schen uns Men­schen oft grö­ßer erschei­nen als sie sind. Ande­rer­seits ist Spra­che ein idea­les Mit­tel, um Sach­ver­halte, Situa­tio­nen und Men­schen zu ver­ein­fa­chen und zu kate­go­ri­sie­ren. Zum Bei­spiel Ste­reo­type: sie ver­ein­fa­chen die Kom­mu­ni­ka­tion, ohne Kate­go­rien und Ste­reo­type wären wir prak­tisch gar nicht lebens­fä­hig. Aber oft­mals ver­lie­ren wir uns in Details und Neben­be­deu­tun­gen, wenn wir über bestimmte „Kon­no­ta­tio­nen“ eines Begriffs dis­ku­tie­ren. Es ist wich­tig, dass wir dar­über dis­ku­tie­ren, ob bei­spiels­weise trans­se­xu­ell, trans­gen­der, tran­s­i­de­ni­tär oder trans­ge­schlecht­lich das rich­tige Wort für eine Sache ist. Am Ende geht es aber doch um das Phä­no­men und wie wir damit ange­mes­sen umgehen.

Genauso wich­tig ist es, die Bedeu­tung von demi­se­xu­ell, ase­xu­ell, inter­se­xu­ell usw. zu ken­nen. In unse­ren gesell­schaft­li­chen Debat­ten geht es aber oft­mals mehr um die Benen­nung und die damit ver­bun­de­nen mora­lisch auf­ge­la­de­nen Neben­be­deu­tun­gen und nicht so sehr um die Sache. Beson­ders im poli­ti­schen Streit und in den sozia­len Medien spielt das Miss­ver­ständ­nis durch Spra­che eine große Rolle.

Unter­schied­li­che Aus­le­gun­gen und Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­kei­ten wer­den sogar gezielt genutzt, um sich gegen­sei­tig ins argu­men­ta­tive Aus zu ste­chen und andere als „falsch“ daste­hen zu las­sen. Ja, sprach­li­che Kon­strukte för­dern Miss­ver­ständ­nisse, per­sön­li­che Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen und lösen sub­jek­tive Krän­kun­gen aus, um jetzt nur mal die nega­ti­ven Sei­ten zu nen­nen. Denn es gibt auch viele posi­tive Aspekte und es liegt letzt­lich nicht allein an der Spra­che, son­dern an der Hal­tung und am Bewusst­sein der­je­ni­gen, die spre­chen, zuhö­ren, sich strei­ten oder (falsch) verstehen.

BK: Sie gehen in einem Kapi­tel auf die Macht ein, die Spra­che auf unsere Gesell­schaft aus­übt. Ich habe mich gefragt, wie schwer es für Sie war, im Buch alles – teil­weise ja auch wis­sen­schaft­li­che Theo­rien – ver­ständ­lich zu erklä­ren und gleich­zei­tig in kein „sprach­li­ches Fett­näpf­chen“ zu treten.

JB: Ich habe mich an man­chen Stel­len gefühlt wie „Der Idiot“ von Dos­to­jew­ski – egal wie man es macht, man macht es falsch. Die Wahr­schein­lich­keit, dass man schei­tert und sich auch mal irrt, ist enorm. Vie­les von dem, was ich ver­sucht habe, unvor­ein­ge­nom­men in ver­ständ­li­che Worte zu fas­sen, hat sich als ein gesell­schaft­li­ches Minen­feld ent­puppt, das einem in jedem Moment wort­wört­lich um die Ohren flie­gen kann.

Das hat mir bei­spiels­weise gezeigt, wie weit die kul­tu­relle Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Geschlecht über das hin­aus­geht, was wir sprach­lich erfas­sen kön­nen. Die eigene Geschlecht­lich­keit ist tief in uns ver­an­kert und immer noch an archai­sche Erfah­run­gen gebun­den. In mei­nem per­sön­li­chen Schreib­pro­zess ging diese Erfah­rung so weit, dass ich ein­mal das Gefühl hatte, meine eigene „Männ­lich­keit“ zu ver­ra­ten – und damit auch die Zuge­hö­rig­keit zum „männ­li­chen Geschlecht“ ins­ge­samt. Das ist jetzt aber nur ein auto­bio­gra­fi­scher Aspekt von vielen.

„Mann Frau Mensch“ ist ein Sach­buch und daher stan­den wis­sen­schaft­li­che Theo­rien und Erkennt­nisse an ers­ter Stelle. Eine groß ange­legte Recher­che, das inten­sive Durch­den­ken und das Zusam­men­stel­len der ent­schei­den­den The­sen und Infor­ma­tio­nen sind dabei unver­zicht­bar. Denn erst die Per­spek­tive und die Kom­bi­na­tion der Sicht­wei­sen ermög­li­chen so etwas wie eine Rele­vanz: Wich­tig sind dabei sprach­li­che Anschau­lich­keit und wis­sen­schaft­li­che Prä­zi­sion, aber auch, dass Erfah­rung und Wis­sen im All­tag zusammenfallen.

Kurz gesagt: Nicht nur sprach­lich ist das Geschlecht eine rie­sige emo­tio­nale und ratio­nale Her­aus­for­de­rung. Auch als Autor habe ich wäh­rend des Nach­den­kens, Recher­chie­rens und Schrei­bens unge­wohnte Per­spek­ti­ven auf das Geschlecht ein­ge­nom­men und gerade dadurch neue Erkennt­nisse und Klar­heit dar­über gewon­nen. So etwas ist natür­lich kein Selbst­läu­fer und man muss sich schon dar­auf ein­las­sen wol­len, um wirk­lich neue Sicht­wei­sen zu ent­wi­ckeln. Letzt­end­lich ist es aber ein sehr befrei­en­der Pro­zess und ich hoffe sehr, dass es den Leser*innen genauso geht.

BK: Schon im Titel machen Sie ja neben den binä­ren Kate­go­rien Mann und Frau noch die „Kate­go­rie“ Mensch auf und die war für mich dann auch ein Fazit des Buches. Brau­chen wir über­haupt noch Kate­go­rien und eine Ein­tei­lung in Män­ner und Frauen?

JB: Erst ein­mal gibt es die Kate­go­rien ja und sie sind auch nicht per se falsch. Wenn wir einen Men­schen aller­dings auf­grund sei­nes Geschlechts bewer­ten, machen wir mög­li­cher­weise Feh­ler. Die Wahr­schein­lich­keit, dass wir jeman­den zum Bei­spiel unter­schät­zen oder über­schät­zen ist sehr viel höher, wenn wir eine Per­son nach geschlech­ter­ty­pi­schen Kri­te­rien beurteilen.

Mit der Fokus­sie­rung auf das Geschlecht schrän­ken wir aber auch unsere Wahr­neh­mung und Emp­fin­dung ein. Das fängt schon damit an, dass wir Män­ner ganz selbst­ver­ständ­lich für männ­lich hal­ten und Frauen für weib­lich. Damit redu­zie­ren wir Men­schen jedoch auf Kon­zepte von Männ­lich­keit und Weib­lich­keit. Gleich­zei­tig ver­bin­den wir mit den Eigen­schaf­ten „männ­lich“ und „weib­lich“ meist eine bestimmte Form von Sexua­li­tät. Dabei sagt die Geschlechts­iden­ti­tät (m/w) über die Sexua­li­tät erst ein­mal gar nicht so viel aus. Oft­mals tun wir so, als seien Geschlecht und sexu­elle Ori­en­tie­rung ein und die­selbe Sache. Und dann stärkt die binäre Frau-Mann-Kate­go­ri­sie­rung die Tat­sa­che, dass sich die Geschlech­ter als grund­sätz­lich ver­schie­den wahr­neh­men. Frauen und Män­ner sind oft­mals fest davon über­zeugt, anders zu sein. Als Frau kann man nie­mals das Den­ken und Füh­len eines Man­nes nach­voll­zie­hen und umgekehrt.

Beson­ders pro­ble­ma­tisch und unsach­lich finde ich es vor die­sem Hin­ter­grund, wenn Feminist*innen behaup­ten, femi­nis­ti­sche The­men seien Frau­en­sa­che. An die­ser Stelle kann die erlebte „Anders­ar­tig­keit“ tat­säch­lich in die Irre füh­ren, denn „femi­nis­ti­sches Den­ken“ ist ja nicht per se eine weib­li­che Eigen­schaft oder Fähig­keit. Femi­nis­mus könnte als Idee und Theo­rie in unse­rer Gesell­schaft gar nicht funk­tio­nie­ren, wenn Män­ner ihn nicht auch begrei­fen, erle­ben und im All­tag umset­zen könnten.

BK: Sie gehen im Buch auch auf die Bedeu­tung fik­tio­na­ler Medien ein, zum Bei­spiel auf den Bech­del-Test, mit dem man über­prü­fen kann, ob Geschlech­ter (oder andere Merk­male) in erzäh­len­den Medien gleich­be­rech­tigt dar­ge­stellt wer­den. Auch abseits davon gibt es ja hau­fen­weise Figu­ren, die Geschlech­terkli­schees bestä­ti­gen – in vie­len Kin­der­bü­chern arbei­ten die Väter und die Müt­ter küm­mern sich um die Kin­der, Rit­ter befreien Prin­zes­sin­nen… Wie schlimm ist denn der Ein­fluss sol­cher Medi­en­bil­der auf uns?

JB: Viele Men­schen lei­den dar­un­ter, dass sie in ihrer Kind­heit und Jugend nicht die rich­ti­gen oder zu wenige Vor­bil­der hat­ten. Und ja, es kann eine sehr ver­un­si­chernde und nach­hal­tige Erfah­rung sein, wenn man irgend­wann in sei­nem Leben fest­stellt, dass man gar keine oder die fal­schen Vor­bil­der hatte. Trotz­dem wurde man geprägt und es ist manch­mal sehr schwie­rig, alte Denk- und Gefühls­mus­ter zu verändern.

Unsere Medien spie­len dabei eine Rolle, genauso wie unser fami­liä­res Umfeld, unsere bio­gra­fisch geprägte Per­sön­lich­keit und der kul­tu­relle Ein­fluss, dem wir alle aus­ge­setzt sind. Zum Ver­hält­nis der Geschlech­ter in den deut­schen Medien gab es zuletzt eine sehr wich­tige Stu­die, die von der Schau­spie­le­rin Maria Furtwäng­ler initi­iert wurde und über die sie in einem Inter­view mit ZEIT online gespro­chen hat. Die Ergeb­nisse spre­chen für sich: Män­ner sind dop­pelt so häu­fig zu sehen wie Frauen und im Kin­der­fern­se­hen ist das Ungleich­ge­wicht beson­ders stark ausgeprägt.

Eine vor­läu­fige Schluss­fol­ge­rung aus die­ser Stu­die lau­tet: Wir leben immer noch in einer Kul­tur, in der es nor­mal ist, dass Jun­gen und Mäd­chen in den Medien viele männ­li­che Vor­bil­der haben, aber nur wenige weib­li­che Vor­bil­der. Ein Grund hier­für könnte sein, dass sich Jun­gen nicht so gut mit weib­li­chen Figu­ren iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Mäd­chen gel­ten in die­ser Hin­sicht anpas­sungs­fä­hi­ger, weil sie sich angeb­lich genauso gut an männ­li­chen Vor­bil­dern ori­en­tie­ren können.

Für eine wis­sen­schaft­li­che Bestä­ti­gung die­ser The­sen fehlt uns aller­dings die empi­ri­sche Basis: Viel­leicht hat­ten Mäd­chen bis­her ein­fach weni­ger Chan­cen, sich mit weib­li­chen Vor­bil­dern zu iden­ti­fi­zie­ren? Viel­leicht kön­nen Jun­gen sich genauso anpas­sen und von weib­li­chen Figu­ren ler­nen? Mög­li­cher­weise wäre es auch für die Ent­wick­lung aller Kin­der för­der­lich, wenn sie sich an weib­li­chen und männ­li­chen Vor­bil­dern ori­en­tie­ren? An die­sen Stel­len wer­den wir als Gesell­schaft in Zukunft sehr viel Krea­ti­vi­tät, Expe­ri­men­tier­freude und Kraft ein­set­zen müs­sen, um neue Figu­ren, Dreh­bü­cher und Struk­tu­ren zu eta­blie­ren, die Vor­bild­funk­tio­nen jen­seits von Geschlech­terkli­schees anbieten.

BK: Mein per­sön­li­cher Ein­druck ist zum Bei­spiel, dass heute mehr rosa Prin­zes­sin­nen unter­wegs sind als in mei­ner Kind­heit, da war Pippi Lang­strumpf viel­leicht noch wich­ti­ger. Muss man dage­gen etwas tun?

JB: Ja, wir beto­nen die Anders­ar­tig­keit der Geschlech­ter viel zu stark. Wir dis­ku­tie­ren zwar über Diver­si­tät und Viel­falt, ver­ges­sen jedoch dabei, was uns ver­bin­det und was uns als Indi­vi­duen aus­macht. Es geht nicht nur darum, anders zu sein und anders zu füh­len. Ein Mann würde dann seine Männ­lich­keit ent­wi­ckeln und eine Frau ihre Weib­lich­keit. Zur Viel­falt gehört auch, selbst viel­fäl­tig zu wer­den und die Viel­falt in sich zu ent­de­cken. Viel­falt leben meint somit, dass man sich selbst und andere dabei unter­stützt, die eigene Viel­falt zu ent­wi­ckeln. Das wie­derum setzt vor­aus, geschlechts­über­grei­fend den­ken, wer­ten und füh­len zu kön­nen und sich und andere nicht auf ein Geschlecht zu beschrän­ken. Das heißt nicht, dass man nicht gerne Frau, Mann oder ein ande­res Geschlecht sein darf. Man kann ja gerne das Geschlecht sein, das man gewor­den ist, aber es gibt eben viele Männ­lich­kei­ten und sehr viele unter­schied­li­che Weiblichkeiten.

Genau das bedeu­tet auch Viel­falt, dass man die größt­mög­li­che Menge an Geschlechts­iden­ti­tä­ten akzep­tiert und wahr­nimmt. Das setzt wie­derum vor­aus, dass man sich nicht nur über sein Geschlecht defi­niert, von sei­ner eige­nen Geschlecht­lich­keit und der des ande­ren abs­tra­hie­ren und sich in andere Geschlech­ter hin­ein­ver­set­zen kann. Ich sage hier­mit also nicht, dass es keine Män­ner und Frauen gibt. Ich bestreite auch nicht, dass sich die meis­ten Men­schen als Frau oder Mann iden­ti­fi­zie­ren. Ich bezweifle aller­dings, dass dies immer mit einem ein­deu­ti­gen Gefühl von weib­lich oder männ­lich einhergeht.

BK: Wie kam es eigent­lich, dass Sie „Mann Frau Mensch“ geschrie­ben haben?

JB: Am Anfang stand der Wunsch, ein Buch über Iden­ti­tät zu schrei­ben. Wie erlebe ich meine Iden­ti­tät im All­tag und wel­che Rolle spielt dabei mein Geschlecht? Dazu kam die­ses Schlüs­sel­er­leb­nis­mit den Student*innen aus mei­nem Semi­nar „Gibt es einen Geschlech­ter­kampf?“, das ich oben beschrie­ben habe. Und dann habe ich in zahl­lo­sen Gesprä­chen mit mei­ner Lek­to­rin Mat­thea Dör­rich viel Inspi­ra­tion, Ermu­ti­gung und Anre­gung erfah­ren. Bei der gemein­sa­men Erar­bei­tung ent­stand das Kon­zept für ein Buch, in dem wir das Thema Geschlecht phi­lo­so­phisch und sozio­lo­gisch reflek­tie­rend ange­hen woll­ten, gemischt mit per­sön­li­chen und künst­le­ri­schen Stim­men. Das Kon­zept habe ich dann mit mei­nem Wis­sen und mei­nen Erfah­run­gen im Aus­tausch mit ande­ren ausgefüllt.

Auch die Struk­tur, die es jetzt hat, ist das Ergeb­nis eines län­ge­ren Pro­zes­ses: vom Ich über die ande­ren, Liebe, Kör­per, Beruf bis zur Gesell­schaft. Im Prin­zip alle Lebens­be­rei­che, in die das Geschlecht hin­ein­wirkt. Wir haben uns gemein­sam dafür ent­schie­den, das Buch mög­lichst offen zu gestal­ten, aber dabei an gewis­sen Kon­ven­tio­nen (zum Bei­spiel sprach­li­cher Art) fest­zu­hal­ten, um damit wirk­lich alle anzu­spre­chen, nicht nur eine bestimmte Gruppe. Denn jeder hat ein Geschlecht.

Viele Men­schen haben aller­dings das Gefühl, mit ihren Pro­ble­men allein dazu­ste­hen, vor allem, wenn es um ihre Iden­ti­tät und ihr Geschlecht geht. Es ist aber für jeden Men­schen wich­tig zu erken­nen, dass wir mit vie­len Gefüh­len und Situa­tio­nen eben nicht alleine da ste­hen: das ist etwas, das alle Men­schen mit­ein­an­der ver­bin­det, und zwar unab­hän­gig vom Geschlecht. Wer sich selbst auf sein Geschlecht redu­ziert und von sei­ner per­sön­li­chen Geschlechts­iden­ti­tät nicht abs­tra­hie­ren kann, ist in einer bestimm­ten Hin­sicht beschränkt. Ein Mensch, der nicht geschlechts­über­grei­fend den­ken und sich in andere Geschlech­ter hin­ein­füh­len kann, hat eine ent­schei­dende Ent­wick­lung nicht gemacht. Und wer andere auf ihr Geschlecht redu­ziert, schränkt auch diese in ihrer Ent­wick­lung mög­li­cher­weise ein. Das glei­che gilt für sich selbst: Wer nicht von sei­ner eige­nen Geschlechts­iden­ti­tät abs­tra­hie­ren kann, ten­diert dazu, sich selbst zu behin­dern und zu blo­ckie­ren. Zu exklu­siv auf­ge­fasste Kon­zepte von Männ­lich­keit und Weib­lich­keit kön­nen dazu füh­ren, dass man sich in sei­ner Ent­wick­lung selbst sabotiert.

BK: Nun zum Abschluss unsere bücher­städ­ti­schen Fra­gen: Wenn Sie selbst ein Buch wären, was für eines wären Sie dann und warum?

JB: Ein Buch, das die Welt erkennt, aber nicht ver­än­dern will.

BK: Gibt es eine Frage, die Sie sich schon immer für ein Inter­view gewünscht haben? Und was ist Ihre Ant­wort darauf?

JB: Eine Frage finde ich für unser Thema span­nend, die mir wahr­schein­lich nur sehr sel­ten gestellt würde: Stel­len Sie sich vor, Sie wären eine Frau, hät­ten Sie dann das glei­che Buch geschrieben?

Das ist mehr als ein spe­ku­la­ti­ves Gedan­ken­ex­pe­ri­ment, denn ich glaube, dass sich jeder Mensch in eine andere Per­son hin­ein­ver­set­zen kann. Als weib­li­che Autorin wäre mein sprach­li­cher Aus­druck hier und da viel­leicht anders. Viel­leicht hätte ich als Frau eher Psy­cho­lo­gie stu­diert und nicht Phi­lo­so­phie. Viel­leicht hätte ich auch dadurch hier und da ein ande­res Bei­spiel gewählt und meine Per­spek­ti­ven hät­ten an man­chen Stel­len eine andere Fär­bung. Aber inhalt­lich wäre das glei­che Buch mit den glei­chen The­sen und Per­spek­ti­ven raus­ge­kom­men. Als Frau hätte ich wahr­schein­lich mit männ­li­chen Lek­to­ren zusam­men­ge­ar­bei­tet, um sicher­zu­stel­len, dass auch die männ­li­che Per­spek­tive gleich­be­rech­tigt ver­tre­ten wäre. Wäre ich eine Frau, hätte ich genauso wie als Mann dar­auf geach­tet, dass weib­li­che, männ­li­che und mensch­li­che Per­spek­ti­ven vor­kom­men und sich gleich­be­rech­tigt ergän­zen. Denn jeder Mensch kann geschlechts­über­grei­fend den­ken, füh­len und handeln.

BK: Vie­len Dank für das Interview!

Ein Bei­trag zum Spe­cial #Kun­ter­bunt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

Weiterlesen

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr