Keep calm! It’s only an extra Chromosome

by Worteweberin Annika

Som­mer in Schwe­den, das ist für viele ein Traum – für Made­leine ganz und gar nicht! „Stech­mü­cken­som­mer“ von Jutta Wilke ist wie ver­rei­sen, fin­det Worte­we­be­rin Annika, ver­rei­sen nach Schwe­den und in eine Zeit, als man selbst noch 13 war.

Jutta Wilke hat in „Stech­mü­cken­som­mer“ drei beson­dere Haupt­fi­gu­ren ver­sam­melt, die für viele 08/15-Jugend­bü­cher wahr­schein­lich nicht hübsch, nicht dünn, nicht ange­passt, schlicht: nicht „nor­mal“ genug gewe­sen wären. Dabei bie­ten diese drei Rei­se­ge­fähr­ten gerade dadurch viel Spiel­raum und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­flä­che. Made­leine zum Bei­spiel, die Ich-Erzäh­le­rin, wird von den meis­ten über­se­hen. Eigent­lich ist ihr das sogar ganz lieb, denn sie ist dick und mag des­we­gen nicht auf­ge­zo­gen werden.

„Wie ein Tor in eine andere Welt sieht der See aus und ich stelle mir vor, hin­ein­zu­sprin­gen und in einem ganz ande­ren Leben wie­der raus­zu­kom­men. In einem Leben, in dem […] Eltern nicht ohne ihre Kin­der Urlaub machen und Kin­der nicht ohne ihre Eltern, außer sie wol­len es und in dem es mir nichts aus­macht, einen Bade­an­zug anzu­zie­hen, in dem es mir egal ist, ob ein Junge mich in einem nas­sen T‑Shirt sieht, ein Leben, in dem ich über­haupt gese­hen werde und nicht unsicht­bar bin.“ (S. 80–81)

Nicht nur die ande­ren Jugend­li­chen machen einen Bogen um Made­leine – und nen­nen sie auch noch „Made“ – auch ihre schlanke und schöne Mut­ter scheint sich für die mäch­tige Toch­ter manch­mal zu schämen.

Feri­en­la­ger? Nein, danke!

Jetzt haben die Eltern Made­leine allein in ein Som­mer­la­ger nach Schwe­den geschickt und sind selbst nach Japan gereist, weil sie Zeit für sich brau­chen. In Små­land soll die fast Vier­zehn­jäh­rige den Som­mer mit Gleich­alt­ri­gen ver­brin­gen, doch das geht gar nicht, fin­det sie! Man­che der Mäd­chen im Lager spie­len noch mit Bar­bies und sind echte „Babys“, die ande­ren wol­len mit der „Made“ nichts zu tun haben. Und dann ste­hen im Feri­en­la­ger auch noch Akti­vi­tä­ten wie Schwim­men oder Wan­dern an, von denen Made­leine so gar nichts hält, weil sie sich zu sehr schämt. Bei einem Aus­flug in ein Berg­werk klinkt sie sich kurz­ent­schlos­sen ein­fach aus. Sie legt sich im Bus auf dem Park­platz schla­fen und wacht kurze Zeit spä­ter neben einem jun­gen Punk wie­der auf – unter­wegs ans Nordkap!

Der Punk, das ist Julian, der mit fünf­zehn natür­lich eigent­lich noch gar nicht Auto­fah­ren dürfte. Und auch wenn er mit sei­nen roten und grü­nen Haa­ren ziem­lich wild aus­sieht, ist er seit lan­gem der ein­zige, der Made­leine so nimmt, wie sie ist. Hin­ter sei­ner har­ten Schale, das merkt sie bald, steckt eigent­lich ein ziem­lich wei­cher Kern. Der ist auch der Grund für die über­stürzte Reise zum Nord­kap, denn die hat Juli sei­nem Opa ver­spro­chen, der aber vor­her an Krebs gestor­ben ist. Nun soll es auf eigene Faust klap­pen. Und auch wenn Made­leine das ziem­lich ver­rückt fin­det, gefällt ihr die Vor­stel­lung irgendwie:

„Der Som­mer ist plötz­lich eine ein­zige irre total ver­rückte Mög­lich­keit. Alles ist mög­lich.“ (S. 74)

Und weil das so ist, kann auch Made­leine eine andere sein, mutig und frei, ohne die stän­di­gen Sor­gen. Unter­wegs mit Juli legt sie sich einen ande­ren Namen zu, Lore, der viel bes­ser zu dem passt, was sie gerne wäre.

Keep calm! It’s only an extra Chromosome

Aber natür­lich kann nicht alles glatt lau­fen, wenn zwei Jugend­li­che mit einem geklau­ten Auto durch Skan­di­na­vien düsen. Irgend­wann ist der Tank alle, das Geld ver­schwun­den. Statt einer Tank­stelle sam­meln die bei­den Vin­cent ein, auf des­sen T‑Shirt der Spruch prangt: Keep calm! It’s only an extra Chro­mo­some. Aber wie soll man da ruhig blei­ben? Am Anfang über­wie­gen ins­be­son­dere bei Juli die Berüh­rungs­ängste mit dem „Behin­der­ten“. Trotz­dem beweist Vin­cent bei­den direkt, dass man ihn nicht abschrei­ben sollte, denn auch er kann zum Gelin­gen der Mis­sion bei­tra­gen. Trotz­dem brau­chen Made­leine und Juli lange, um zu begrei­fen, dass man von außen nicht auf das Innere einer Per­son schlie­ßen sollte und das anders noch lange nicht schlech­ter sein muss.

Wie die Jugend­li­chen unter­wegs zum Nord­kap kön­nen auch Lese­rIn­nen hier ihre Vor­ur­teile auf den Prüf­stand stel­len und ganz neben­bei, durch die Iden­ti­fi­ka­tion mit den drei wun­der­vol­len Figu­ren, viel über Diver­si­tät und „Anders“-Sein ler­nen. Das gelingt Jutta Wilke ganz ohne einen beleh­ren­den Zei­ge­fin­ger. Mit gro­ßem Ein­füh­lungs­ver­mö­gen beschreibt sie ihre jugend­li­chen Cha­rak­tere, ohne dabei in Kli­schees zu ver­fal­len, denen man in manch ande­ren Jugend­bü­chern begeg­net. Die drei Jugend­li­chen und ihre Pro­bleme wer­den ernst genom­men – und weil nicht nur die erste Liebe zum Gefühls­re­per­toire von Drei­zehn- und Vier­zehn­jäh­ri­gen zählt, geht es darum in die­ser Com­ing-of-Age-Story auch fast gar nicht. Statt­des­sen ste­hen die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lun­gen des Trios im Mittelpunkt.

Freund­schaft vor wun­der­schö­ner Kulisse

Auf der Reise ler­nen Made­leine – oder Lore –, Juli und Vin­cent Selbst­ver­trauen und Freund­schaft ken­nen. Die Pro­bleme, mit denen sie sich kon­fron­tiert sehen, kön­nen sie gemein­sam meis­tern und erken­nen letzt­end­lich sogar, dass das Ankom­men gar nicht so wich­tig ist.

„So ist es also, das Leben. So frisch. So wun­der­bar ange­nehm frisch und leben­dig. Und dann schwimme ich lachend und mit weni­gen Schwimmstö­ßen zu Juli und tunke ihn unter und spritze Vin­cent Was­ser ins Gesicht bis er kreischt und mein Kör­per fühlt sich so leicht und so frei wie nie zuvor.“ (S. 186)

Wich­tig für die Reise und die Ent­wick­lung ist sicher­lich auch die fas­zi­nie­rende Land­schaft Süd­schwe­dens, die das Trio gemein­sam durch­quert. Die Natur lässt Made­leine Raum für ihre Gedan­ken, die zu Hause in Deutsch­land immer an der Wand des Nach­bar­hau­ses abprall­ten. (Und ein Vor­teil ist natür­lich auch, dass man in der Idylle prak­tisch unge­se­hen mit einem geklau­ten Auto ver­schwin­den kann, weil einem keine ande­ren Fahr­zeuge begeg­nen.) Wil­kes Beschrei­bun­gen der Land­schaft trans­por­tie­ren das Urlaubs­ge­fühl wun­der­bar wei­ter und machen Lust auf Som­mer in Schweden:

„Und dann muss ich eine ganze Weile ein­fach erst mal ste­hen und gucken und die Luft ein­at­men. Die Augen zuma­chen. Weil etwas so Schö­nes wie die­ser See mit offe­nen Augen kaum aus­zu­hal­ten ist. So schön, dass sich die Här­chen an mei­nen Armen auf­stel­len, weil auch die Haut das alles ein­at­men will, in allen Poren den Som­mer spü­ren und am liebs­ten nie wie­der los­las­sen.“ (S. 80)

Ansons­ten ist Wil­kes Stil von teils kur­zen, stak­ka­to­ar­ti­gen Sät­zen geprägt, in denen sich Made­lei­nes sich über­schla­gende Gedan­ken spiegeln.

„Stech­mü­cken­som­mer“ ist ein herr­li­cher Roman, der jugend­li­che Lese­rIn­nen ernst nimmt und wich­tige The­men des Erwach­sen­wer­dens sowie unse­rer Gesell­schaft anspricht, der aber auch für Erwach­sene eine son­nige Lek­türe sein kann.

Stech­mü­cken­som­mer. Jutta Wilke. Kne­se­beck. 2018.

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4 comments

Bianka Bloecker 25. Juli 2019 - 11:15

Wun­der­bar, liebe Annika – das hat mich rich­tig neu­gie­rig gemacht! 

Da werde ich wohl gleich tat­säch­lich durch Ber­lins momen­ta­nen Bil­der­buch­som­mer zu mei­nem Lieb­lings­buch­la­den laufen ...

Dir herz­li­chen Dank für diese Anre­gung und eine sorg­lose, lese­fut­ter­rei­che Zeit
Bianka

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Worteweberin Annika 29. Juli 2019 - 13:51

Liebe Bianka, das freut mich! Ich hoffe, du ver­bringst mit der Geschichte son­nige und genüss­li­che Lese­stun­den – falls du magst, ver­rat mir doch hier spä­ter gerne, wie dir das Buch gefal­len hat.
Viele Grüße nach Berlin,
Annika

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Marlis 12. August 2019 - 0:39

Liebe Annika, auch ich habe durch deine wun­der­bare Buch­vor­stel­lung jetzt rich­tig Lust dar­auf, diese Geschichte zu lesen.
Ich finde deine Rezen­sio­nen groß­ar­tig, für mich sind sie hier im Bücher­stad­ku­rier die aller­le­sens­wer­tes­ten, denn sie sind immer so gefühl­voll und mit­rei­ßend geschrie­ben, so dass dann auch wirk­lich die Begeis­te­rung für Lite­ra­tur rüber­kommt, und einem nicht, wie bei man­chen ande­ren Bei­trä­gen, eher die Lust am Lesen ver­geht. Vie­len Dank dafür!

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Worteweberin Annika 17. August 2019 - 17:10

Ganz lie­ben Dank für deine net­ten Worte, liebe Marlis!
Schön an der Bücher­stadt ist für mich, dass wir alle hier einen etwas ande­ren Blick auf Lite­ra­tur haben – aber natür­lich höre ich sehr gerne, wenn dir meine Art, über Lite­ra­tur zu schrei­ben, so gut gefällt – ich hoffe, das bleibt auch so!
Und natür­lich bin ich auch gespannt, was du über „Stech­mü­cken­som­mer“ denkst, wenn du damit durch bist, also lass gerne von dir hören. Bis dahin viele son­nige Urlaubsgrüße,
Annika

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