Kennt man einen Menschen je wirklich?

by Buchstaplerin Maike

Es gibt Kri­mis, bei denen der Mord nur die Kulisse für einen exzen­tri­schen Ermitt­ler ist. Und es gibt Kri­mis wie „Broad­church“. Kelly und Chib­nall haben in der Roman­fas­sung des bri­ti­schen TV-Hits die emo­tio­nale Zer­stö­rungs­kraft ein­ge­fan­gen, die sich erst nach dem eigent­li­chen Ver­bre­chen ent­wi­ckelt. – Von Buch­stap­le­rin Maike

„Nie­mand kommt rein nach Broad­church, und nie­mand kommt raus.“

Broad­church an der Süd­küste Eng­lands: Eine Klein­stadt, die vom Tou­ris­mus lebt und in der sich die Bewoh­ner ken­nen. Oder bes­ser zu ken­nen glau­ben. Denn eines Mor­gens liegt am Strand die Lei­che des elf­jäh­ri­gen Danny Lati­mer. DI Alec Hardy, ein neuer Poli­zist in der Stadt, muss her­aus­fin­den, wer aus der Gemeinde ihn umge­bracht hat. Dabei kommt Hardy, des­sen Kar­riere ohne­hin schon durch frü­here Fehl­schläge belas­tet ist, nicht in den Ermitt­lun­gen voran. Denn jeder in der Stadt hat etwas zu ver­ber­gen, und jeder macht sich verdächtig.

Warum will Dan­nys Vater Mark nicht preis­ge­ben, wo er in der frag­li­chen Nacht gewe­sen ist? Warum löscht Dan­nys bes­ter Freund alle Nach­rich­ten von sei­nem Com­pu­ter? Was weiß die kalt­her­zige Frau aus dem Trai­ler­park, was der alternde Zei­tungs­ver­käu­fer, was der junge Pries­ter? Nach und nach kom­men bei allen Ver­däch­ti­gen Geschich­ten aus der Ver­gan­gen­heit ans Tages­licht, die daran zwei­feln las­sen, ob man seine Freunde und Fami­lie je wirk­lich kennt. Das fragt sich bald auch Dan­nys Mut­ter Beth, die nicht nur die Trauer und Wut ver­ar­bei­ten muss. Mitt­ler­weile ist die Presse auf den Kinds­mord auf­merk­sam gewor­den und bringt noch mehr durcheinander...

Man sollte mei­nen, „Broad­church“ ist vom Thema irgend­wie schon ein­mal dage­we­sen, aber der Schein trügt. Natür­lich wer­den Kli­schees auf­ge­grif­fen, wie das des Ermitt­lers mit einem Makel, oder der Geheim­nisse wie aus der Klatsch­presse. Und auch Kinds­mord ist nicht neu in der Kriminalliteratur.

Jedoch ist es der Thril­ler-Autorin Kelly gelun­gen, die den Roman aus­ge­hend von Chib­nalls TV-Serie geschrie­ben hat, all das so zusam­men­zu­set­zen, dass es den Leser ins Herz trifft. Denn hier ist die Fami­lie des Opfers nicht nur die Kulisse für die Ermitt­lung, son­dern steht im Vor­der­grund. Indem die Erzähl­per­spek­tive zwi­schen den Figu­ren wech­selt, bekommt man den größt­mög­li­chen Ein­blick in die Emo­tio­nen und Motive der betrof­fe­nen Bewoh­ner von Broad­church. Auch das über­ra­schende Ende, das den Leser sprach­los macht, weiß die alt­her­ge­brach­ten Krimi-Mus­ter neu zu interpretieren.

Fra­gen wer­den auf­ge­wor­fen, die sonst bei der Suche nach dem Mör­der (die übri­gens auch hier nicht zu kurz kommt) wenig auf­kom­men: Wie geht man mit einem so unvor­stell­ba­ren Ver­lust um? Kann man je wirk­lich mit einer per­sön­li­chen Tra­gö­die abschlie­ßen? Wem kann man trauen, wenn jeder etwas verbirgt?

„Wie die meis­ten Bri­ten hatte ich diese Serie schon im Fern­se­hen gese­hen und war regel­recht beses­sen davon!“ (Erin Kelly)

„Broad­church – Der Mör­der unter uns“ ist die Roman­be­ar­bei­tung der Serie, die 2013 mit vie­len bekann­ten Schau­spie­lern (u.a. David Tennant und Oli­via Cole­man) das bri­ti­sche Publi­kum begeis­tert hat. Sonst gehen Film und Buch meist den umge­kehr­ten Weg, hier aber wird bewie­sen, wo die Stär­ken des jewei­li­gen Medi­ums lie­gen: Die Atmo­sphäre und das Tempo sind in den acht Epi­so­den unnach­ahm­lich bebil­dert, die Schau­spie­ler und Schau­spie­le­rin­nen las­sen den Zuschauer nah an den Ereig­nis­sen teil­ha­ben. Dage­gen gewährt das Buch einen tie­fen Blick in die Psy­che der Figu­ren, wie es fil­misch kaum umzu­set­zen ist. Wer zuerst die Serie gese­hen hat, erkennt die Story ziem­lich genau wie­der, die Emo­tio­nen wer­den noch stär­ker wie­der auf­ge­wühlt. Wer zuerst das Buch liest, kann sich anschlie­ßend in das fil­mi­sche Broad­church bege­ben. Beide Medien ergän­zen sich perfekt.

„Broad­church“ ist ein Buch, das den Leser kom­plett in Beschlag nimmt – man kann es an einem ver­reg­ne­ten Wochen­ende ver­schlin­gen. Wer einen action­rei­chen Krimi sucht, wird hier nicht fün­dig. Aber wer zu die­sem bri­ti­sche Who­dun­nit aus der obe­ren Liga greift, wird mit einer Story belohnt, die einen mit dem Been­den des Buches nicht los­las­sen wird. Oft kann man den Wer­be­auf­kle­bern auf einem Roman nicht trauen, aber dies­mal muss ich mich dem Urteil anschlie­ßen: Unbe­dingt lesen!

Broad­church – Der Mör­der unter uns. Chris Chib­nall & Erin Kelly. Über­set­zung: Irmen­gard Gab­ler. Fischer. 2014.

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1 comment

amethyststurm 17. Oktober 2014 - 17:27

Hat dies auf ame­thyst­sturm reb­loggt und kommentierte:
Das Buch zum Film? Das Buch NACH dem Film? Ja, das gibt es auch. Und wie per­fekt es funk­tio­nie­ren kann, zeigt die Roman­fas­sung vom ITV-Hit „Broad­church“...

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