Kommt nach der Dystopie die feministische Farm-Idylle?

by Bücherstadt Kurier

Nach einer Kli­ma­ka­ta­stro­phe stürzt Eng­land in ein auto­ri­tä­res Sys­tem ab, das die Men­schen unter­drückt. Eine Frau flieht – denn einen Ort soll es geben, an dem Frauen sich der Unter­drü­ckung ent­zie­hen. Bücher­städ­te­rin Vera hat Sarah Halls Roman gele­sen, der wie ein moder­ner Kom­men­tar auf „Der Report der Magd” daher­kommt, aber hin­ter den Erwar­tun­gen zurückbleibt.

„Jeder Schritt brachte mich wei­ter aus der Stadt hin­aus und näher an meine eige­nen Gren­zen.” (S. 21)

Die namen­lose Prot­ago­nis­tin erträgt das Sys­tem nicht mehr, in dem sie lebt. Unter­drückt von der Obrig­keit, zwangs­ste­ri­li­siert und zur Zwangs­ar­beit ver­pflich­tet, klam­mert sie sich an die Hoff­nung, dass es irgendwo im Nor­den Eng­lands einen Zufluchts­ort für Frauen wie sie gibt: Car­hul­lan, eine aut­ark von Frauen bewirt­schaf­tete Farm. Doch der Ort ist nicht die Idylle, die sich „Schwes­ter”, wie sie sich nun nennt, erhofft hat: Der Emp­fang ist unsanft und das Leben hart. Und auch wenn von der Anfüh­re­rin Jackie eine große Fas­zi­na­tion aus­geht und sie Schwes­ters Welt­bild auf den Kopf stellt, ent­hüllt sich immer mehr Jackies wah­rer Plan, die Obrig­keit mit größ­ter Gewalt zu ver­nich­ten. Ist das wirk­lich der Weg zur Befreiung?

„Man kann sich nicht vor­stel­len, dass die Welt tat­säch­lich zu Scha­den kom­men kann, dass wäh­rend der eige­nen Lebens­zeit irgend­eine echte Kata­stro­phe ein­tre­ten wird.” (S. 12)

„Die Töch­ter des Nor­dens” ist keine leichte Kost, stellt Bücher­städ­te­rin Vera schnell fest. Nicht nur ist das Sze­na­rio, dass nach einer Kli­ma­ka­ta­stro­phe die Demo­kra­tie zusam­men­bricht, erschre­ckend rea­lis­tisch. Auch der schlei­chende Abstieg von Hoff­nung zu Gewalt und Extre­mis­mus macht die Lek­türe zu einer Herausforderung.

Das Grund­mo­tiv des Romans ist Befrei­ung. Wie kann sie in der Hoff­nungs- und Macht­lo­sig­keit gelin­gen, vor allem, wenn man selbst zu einer mar­gi­na­li­sier­ten Gruppe gehört? Die Hoff­nung der Prot­ago­nis­tin, dass auf der Farm alles bes­ser wird, ent­puppt sich schnell als Fan­ta­sie. Denn inmit­ten der Dys­to­pie ent­wirft die Autorin keine femi­nis­ti­sche Uto­pie. Car­hul­lan ist kein Para­dies, wie Schwes­ter schnell fest­stellt. Alles zum Leben Not­wen­dige wird dem Boden unter gro­ßer Anstren­gung abge­won­nen, es gibt Krank­hei­ten, Streit, Gewalt. Den­noch glaubt Schwes­ter an Jackie, die die Frauen zu einer Armee aus­bil­den will. Und Jackie glaubt daran, dass nur durch Krieg Eman­zi­pa­tion und Empower­ment gelin­gen kann: „Schwes­ter, wie schlimm muss es um eine Frau ste­hen, bevor sie zurück­schlägt, nicht um sich zu ver­tei­di­gen, son­dern weil es sich […] zu kämp­fen lohnt?” (S. 145)

Aber das wirft die Frage auf, ob Befrei­ung mit Hilfe von Fol­ter, Extre­mis­mus und Ter­ro­ris­mus wirk­lich der rich­tige Weg ist. Gibt es einen Unter­schied dazwi­schen, sich selbst zu befreien und andere zu befreien, die man für Skla­vin­nen eines unge­rech­ten Sys­tems hält? Ist es Befrei­ung, die Unter­drü­ckung umzu­keh­ren und Män­ner als die­nende Klasse außer­halb der Farm unter­zu­brin­gen? Ist es Befrei­ung, wenn nur Stärke, Härte und Abge­stumpft­heit etwas zäh­len, wäh­rend Schwä­che ver­höhnt wird?

Doch es gibt nicht nur diese Seite. Die Schwes­tern­schaft und der erhoffte Zusam­men­halt gibt es auf der Farm genauso: Schwes­ter gelingt es, nicht nur ihr Leben neu zu ord­nen, son­dern auch ihr Lie­ben und Begeh­ren in Car­hul­lan neu zu ent­de­cken. So lotet Hall die mora­li­schen Grau­zo­nen geschickt aus.

„Wenn ich die Farm ein­mal erreicht hätte, würde alles bes­ser werde. Dafür wür­den die Frauen schon sor­gen.” (S. 23)

Trotz­dem schwingt im Roman ein ange­staub­ter, rück­wärts­ge­wand­ter Femi­nis­mus mit, der eher an die 1970er als die 2000er erin­nert. Es fühlt sich zudem an, als wäre die Spra­che bewusst um der Schock­wir­kung wil­len vul­gär und abge­stumpft: Das N‑Wort und sexis­ti­sche Belei­di­gun­gen las­sen schlu­cken, auch wenn sie den abge­här­te­ten Grund­ton des Romans unter­strei­chen. Tat­säch­lich erklärt sich der Ein­druck dadurch, dass das Buch erst­mals 2007 auf Eng­lisch erschien: Viele Motive und Debat­ten zu Femi­nis­men und Ras­sis­mus, die heut­zu­tage all­ge­gen­wär­tig sind, waren noch nicht (so) präsent.

Daher füh­len sich die Bot­schaf­ten lei­der pes­si­mis­tisch an, nicht nur, was den Zusam­men­bruch durch den Kli­ma­wan­del angeht, son­dern auch der mit­schwin­gende Anti­fe­mi­nis­mus. Alles in allem ist „Die Töch­ter des Nor­dens” ein har­ter Roman, des­sen beschrie­bene Grau­sam­kei­ten nicht die­selbe Fas­zi­na­tion zu ent­wi­ckeln ver­mag, wie es zum Bei­spiel „Der Report der Magd” von Mar­ga­ret Atwood konnte.

Die Töch­ter des Nor­dens. Sarah Hall. Aus dem Eng­li­schen von Sophia Lind­sey. Pen­guin. 2021.

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