Krakonos: Gestaltwandler in einer „hochtechnisierten Welt“

by Zeichensetzerin Alexa

Wie­land Freunds „Kra­ko­nos“ wurde nicht nur mit dem dies­jäh­ri­gen Leip­zi­ger Lese­kom­pass aus­ge­zeich­net, son­dern auch für den Deut­schen Jugend­li­te­ra­tur­preis nomi­niert. Folg­lich hatte Zei­chen­set­ze­rin Alexa große Erwar­tun­gen, die aller­dings nicht ganz erfüllt wer­den konnten.

„Das Meer rauschte. Die große LED-Kugel an der Decke tauchte den Saal in ein schwa­ches was­ser­blaues Licht. Nik kam es vor, als läge er auf dem Grund des Oze­ans. Er war wie ein Fisch im Aqua­rium hin­ter dem Glas eines Touch­screens.“ (S. 8)

Diese ers­ten Sätze beschrei­ben sehr bild­lich, wie es den Prot­ago­nis­ten Nik und Levi in Wie­land Freunds Kin­der­buch „Kra­ko­nos“ ergeht. Da ihre Eltern für den IT-Kon­zern Qwip​.com arbei­ten, wach­sen die Brü­der in der Aca­demy auf. Dass sie dort unglück­lich sind, wird beson­ders durch Levis Ver­hal­ten sicht­bar: Statt sich wie andere mit Pro­gram­mie­ren und ande­ren Tech­nik-Din­gen zu befas­sen, beschäf­tigt er sich lie­ber mit Tie­ren und der Natur. Auch er scheint gefan­gen zu sein „wie ein Fisch im Aqua­rium hin­ter dem Glas eines Touchscreens.“

Aber dann geschieht etwas Selt­sa­mes: Als Levi auf dem Gelände des Kon­zerns einen Raben ent­deckt und ihm folgt, begeg­net er „Riebe“. Es stellt sich her­aus, dass es sich bei dem Frem­den um einen Gestalt­wand­ler han­delt, einen Berg­geist vom Rie­sen­ge­birge, der auch „Kra­ko­nos“ oder „Rübe­zahl“ genannt wird. Da er als gefähr­lich gilt, will ihn der SEK töten. So gera­ten auch Nik und Levi bei ihrer gemein­sa­men Flucht in Gefahr.

Kin­der­welt – Erwachsenenwelt

Erzählt wird die Geschichte um Riebe und die bei­den Brü­der aus zwei Per­spek­ti­ven: einer­seits aus der Sicht der Kin­der und ande­rer­seits aus der einer Stu­den­tin namens Emma O’Lynn. Diese befin­det sich am Ende ihres Stu­di­ums der Mytho­bio­lo­gie. Ihre Fas­zi­na­tion für inner­ir­di­sche Wesen – und ins­be­son­dere für den Berg­geist Kra­ko­nos – ist der Grund dafür, dass sie Riebe vor dem SEK schüt­zen will. Sie tut alles in ihrer Macht ste­hende, um ihn und die Kin­der zu retten.

Damit offen­bart das Kin­der­buch zwei Wel­ten, die gegen­sätz­lich schei­nen. Die naiv-hoff­nungs­volle Kin­der­welt steht – mit Aus­nahme von Emma – der gewalt­vol­len Erwach­se­nen­welt gegen­über. Dass die Brü­cke zwi­schen die­sen Wel­ten die ein­zige im Roman vor­kom­mende Frau bil­det, kann bedeu­tungs­los sein, in die­ser Figu­ren­kon­stel­la­tion aber auch kli­schee­haft erschei­nen: So wirkt es, als sei nur eine Frau emo­tio­nal-sozial in der Lage, um diese Posi­tion ein­zu­neh­men, mit den sich auf der Flucht befin­den­den Kin­dern einen guten Draht auf­zu­bauen etc. Die Macht, die Män­ner in die­ser Welt aus­üben, wird spä­tes­tens dann spür­bar, als Emma mit ihrer Geheim­nis­krä­me­rei hin­sicht­lich des Kon­takts zu den Kin­dern auf­fliegt. Die­sen Ver­rat bestraft der SEK wie­derum mit erzwun­ge­nem Ver­rat: Als Ver­trau­ens­per­son soll Emma Riebe und die Kin­der in eine Falle locken ...

Mytho­bio­lo­gie, Natur und Technologie

Die „Mytho­bio­lo­gie“ ist zwar frei erfun­den, das in die­sem Werk dar­ge­stellte Ver­hält­nis zwi­schen Natur und Tech­no­lo­gie erscheint jedoch rea­li­täts­nah. Die „hoch­tech­ni­sierte“ Welt, wie sie beschrie­ben wird, erin­nert an gegen­wär­tige tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen: Der Kon­zern Qwip​.com kann als Ver­weis auf bspw. Google und face­book fun­gie­ren, soge­nannte „Qwips“ als Mes­sen­ger-Nach­rich­ten etc. Wenn­gleich der Autor – laut Nach­wort – kei­ner­lei Ver­weise auf Inter­net­un­ter­neh­men beab­sich­tigt hat, so wer­den die fik­ti­ven und rea­len Lebens­wel­ten beim Lesen auto­ma­tisch verknüpft.

Den Mythos um den Berg­geist Rübe­zahl inmit­ten des Span­nungs­fel­des zwi­schen Natur und Tech­no­lo­gie zu plat­zie­ren, ist ein gelun­ge­ner Schach­zug. Kra­ko­nos hat die wenige Natur, die es in die­ser Welt noch gibt, auf sei­ner Seite und schafft es gleich­zei­tig, sich als Gestalt­wand­ler der Tech­no­lo­gie der Men­schen zu ent­zie­hen. Seine geheim­nis­volle Erschei­nung ist dabei fas­zi­nie­rend und ent­täu­schend zugleich: Wün­schens­wert wären beim Lesen ver­tie­fende Infor­ma­tio­nen und Hin­ter­grund­wis­sen gewe­sen. Hier­für hätte sich Emma in ihrer Rolle als ver­mit­telnde For­sche­rin gut geeignet.

Lesens­wert?

„Kra­ko­nos“ braucht eine Weile, um seine Stär­ken zu ent­fal­ten. Zeit­wei­lig wirkt die Hand­lung auf­grund des Per­spek­tiv­wech­sels hin­aus­ge­zö­gert. Bestimmte, geschil­derte Situa­tio­nen, die bei­spiels­weise den (beruf­li­chen) All­tag von Erwach­se­nen dar­stel­len, schei­nen belang­los für eine Geschichte, die für Kin­der ab 11 Jah­ren geschrie­ben wurde.

Nichts­des­to­trotz ist „Kra­ko­nos“ auf­grund span­nen­der, mythi­scher Ele­mente (und einem über­aus anspre­chen­den Cover von Hans Balt­zer) ein lesens­wer­tes Werk, das zum Nach­den­ken anre­gen kann, aber kei­nes, das man unbe­dingt gele­sen haben muss.

Kra­ko­nos. Wie­land Freund. Beltz & Gel­berg. 2017.

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