Leichenschau

by Bücherstadt Kurier

1. Auf­takt

Die Bühne ist dun­kel. Im Vor­der­grund die Umrisse eines Tisches, dane­ben ein Besteck­tisch auf Rol­len. Die Lei­che betritt von der lin­ken Seite die Bühne, legt sich auf dem Stahl­tisch zurecht, der Arzt kommt von der rech­ten Seite her­ein, ein Tuch bei sich. Auf dem Boden links vom Tisch liegt ein Regenschirm.

Lei­che: (dreht den Kopf zum Publi­kum) Ein gro­ßer Regen­schirm sorgt dafür, dass man dar­un­ter halb­wegs tro­cken bleibt. Er schränkt lei­der auch das Sicht­feld ein.

Der Arzt deckt sie mit dem Tuch zu. Anschlie­ßend bleibt er hin­ter dem Stahl­tisch ste­hen, die Hände erho­ben als stünde er kurz vor einer Ope­ra­tion. Er trägt grüne OP-Klei­dung, eine Kopf­be­de­ckung, aber kei­nen Mund­schutz. Nach­dem er sich posi­tio­niert hat, wird ein Pro­jek­tor ange­schal­tet: Auf die dunkle Bühne wird nun die Video­pro­jek­tion einer jun­gen Frau mit brau­nem Haar auf einem Fahr­rad gestrahlt. Im Rat­tern des älte­ren Geräts erwacht sie zum Leben, ihre Jacke bauscht sich wie ein Fall­schirm hin­ter ihr im Fahrt­wind, scheint von ihrem auf­rech­ten Rücken davon­flat­tern zu wol­len, wäh­rend die Trä­ge­rin sich nach vorne lehnt, der zuneh­men­den Stei­gung der Straße entgegen.
Der Arzt geht nach eini­gen Sekun­den, wäh­rend derer die Auf­merk­sam­keit des Publi­kums vom Hin­ter­grund ange­zo­gen wird, näher zum Stahl­tisch. Er betä­tigt einen Schal­ter, der dar­über von der Decke bau­melt: Mit einem Kli­cken steht er in Ope­ra­ti­ons­lam­pen-Licht getaucht, die Auf­nahme im Hin­ter­grund steht auf Stand­bild, wirft ihr Bild auf die gesamte Sze­ne­rie, ehe sie erlischt.

Arzt: (nimmt ein Dik­tier­ge­rät aus sei­ner Brust­ta­sche, plat­ziert es auf dem Besteck­tisch und drückt auf eine Taste. Er seufzt, als er sich zurück zum Tisch wen­det) Na dann wol­len wir mal. (er blickt auf die Uhr, wen­det sich dann zum Publi­kum) Beginn der Obduk­tion an Vero­nika Kunkl zur Abklä­rung der Todes­ur­sa­che, zehn Uhr siebzehn.

Er schlägt das Tuch über der Lei­che zurück und greift zu einem Akten­bo­gen. Die Lei­che, Vero­nika, in einem wei­ßen Pati­en­ten­kit­tel, setzt sich auf. Sie dreht sich zum Publi­kum, lässt die Beine bau­meln, ehe sie diese über­ein­an­der­schlägt. Sie sitzt am lin­ken Rand des Stahltisches.

Lei­che: (dreht den Kopf in Rich­tung des Arz­tes, der wie­der aus sei­ner Starre erwacht, als wolle sie zu ihm spre­chen, doch er ope­riert am lee­ren Tisch als läge sie noch dort) Sie kön­nen mich Vero nen­nen. Das machen alle meine Freunde so. (sie blickt auf den Tisch hinab) Die­ser Kör­per hier soll wohl ich sein – (sie spricht jetzt direkt zur lee­ren Flä­che des Stahl­ti­sches, den sie nicht im Sit­zen okku­piert) du siehst nicht aus wie ich. Du starrst viel zu tot durch die Gegend. (sie wen­det sich kurz ab, ihr fällt jedoch noch etwas ein) Die Som­mer­spros­sen ste­hen dir übri­gens noch immer nicht.

Arzt: (als hätte er sie nicht gehört, spricht er für das Dik­tier­ge­rät) Die Ver­stor­bene ist eine junge Frau, etwa ein Meter sieb­zig groß, Schuh­größe vier­zig. Eine Narbe auf dem lin­ken Knie.

Vero­nika: (ver­schränkt die Arme vor der Brust, wiegt den Kopf) Ich bin mit zwan­zig zum ers­ten Mal in der Stadt Fahr­rad gefah­ren, und gleich unglück­lich gestürzt. Mein Knie hatte acht Sti­che nötig. Die zwei Wochen, die ich dar­auf­hin mit einer Schiene schwit­zend und nicht son­der­lich mobil ver­bracht habe, hätte ich ohne meine für­sorg­li­che Mit­be­woh­ne­rin und die tau­send Kitsch-Romane in ihrem Fest­plat­ten-Fun­dus nicht überstanden.

Arzt: (blickt auf die Akte) Sie ist vier­und­zwan­zig – nein, fünf­und­zwan­zig – Jahre alt.

Vero­nika: (lako­nisch, zum Arzt) Mein Geburts­tag war letzte Woche, am 12. Juni. Wir woll­ten vor­ges­tern eigent­lich end­lich nach­fei­ern. (sie lächelt schief, zuckt mit den Schul­tern) Mir ist lei­der etwas dazwischengekommen.

Vero­nika steht auf und geht einige Schritte nach links. Das Schein­wer­fer­licht wan­dert mit ihr und wird abge­dämpft, ein ein­zi­ger gedämpf­ter Strahl erleuch­tet das Tun des Arz­tes, der die Akte wie­der auf den Besteck­tisch legt und stumm mit der Obduk­tion wei­ter­macht. Die Pro­jek­tion star­tet erneut, zeigt dies­mal Vero­nika von vorne, einen Regen­schirm in ihre Ach­sel­höhle geklemmt, auf den die dicken Trop­fen pral­len. Sie kämpft auf dem Fahr­rad gegen Wind und Steigung.

Vero­nika: (geht um den Stahl­tisch herum, nimmt die Akte vom Bei­stell­tisch und blät­tert kurz darin herum, ehe sie auf- und ins Publi­kum blickt) Ich bin ges­tern gestor­ben, nach einem Tag im Koma. Vor­ges­tern war der Unfall. Und das soll der Tod sein? (sie scheint einen Moment lang rat­los zu sein, zuckt schließ­lich mit den Schul­tern und lächelt. Wäh­rend sie spricht, tritt sie lang­sam zur Stelle, an der der Regen­schirm am Boden liegt) Meine Pläne hät­ten eigent­lich anders aus­ge­se­hen: Wir woll­ten die letz­ten Prü­fun­gen fei­ern, mei­nen Geburts­tag. Wir woll­ten auf der Dach­ter­rasse gril­len. (sie blickt zur Lein­wand) Ich war früh dran, würde aber so oder so zu spät kom­men. Ich bin immer zu spät dran, weil ich bei jedem Wet­ter mit dem Fahr­rad fahre. (Vero­nika geht in die Knie, um den Regen­schirm vom Boden auf­zu­he­ben, und demons­triert dem Publi­kum einen blau-grü­nen Regen­schirm) Obwohl ich die­ses eine Mal viel­leicht hätte die U‑Bahn neh­men sollen.

Arzt: (stimmt ihr brum­mend aus dem Hin­ter­grund zu; ein Zufall: er sieht nur die Lei­che, die es zu obdu­zie­ren gilt) Es hätte für dich bes­ser lau­fen sol­len, Veronika.

Man hört einen Warn­ton. In der Pro­jek­tion scheint es als würde das Band rei­ßen und ver­bren­nen. Jemand flucht im Hin­ter­grund, es wird dun­kel und still. Gedämpf­tes Licht. Die Bewe­gung des Arz­tes ist wie zuvor ein­ge­fro­ren. Vero­nika dreht sich mit dem auf­ge­spann­ten Schirm im Kreis, ehe sie sich zurück zum Stahl­tisch begibt, auf den sie sich legt. Den Regen­schirm legt sie neben sich. Im Fol­gen­den bleibt die­ser Teil der Sze­ne­rie erstarrt.

Vero­nika: (hat den Kopf zum Publi­kum gedreht) Hätte ich die Ampel nicht über­se­hen – anders kann ich mir den Unfall nicht erklä­ren! Ich konnte mit dem rie­si­gen Regen­schirm ja nicht über­se­hen wer­den – wäre ich am Ende noch recht­zei­tig gekommen.

Im Bereich des Publi­kums knallt eine der Zugangs­tü­ren laut zu. Der Arzt zuckt merk­lich zusam­men: damit zusam­men zuckt auch das Licht. Zeit­gleich springt ein ver­meint­li­cher Zuschauer im brau­nen Anzug, der leise an Casa­blanca erin­nert, auf als wolle er flüch­ten. Er bleibt beim Anblick des Ermitt­lers, der durch den Haupt­gang in Rich­tung Bühne stapft, ste­hen. Der Ermitt­ler trägt einen wei­ßen Anzug ohne Kra­watte, ein hell­blaues Hemd und Segel­schuhe. Er trägt eine Son­nen­brille. An sei­nem Jackett ein Aus­weis, der ihn als Mit­glied der „SOKO“ aus­zeich­net. Auf der Bühne plat­ziert er sich mit etwas Abstand zur Lin­ken des Stahl­tischs, späht einen Moment lang ins Publikum.

Ermitt­ler: (wen­det sich mit lau­ter Stimme in Rich­tung Publi­kum) Heintz, wo blei­ben Sie?

Fri­do­lin Heintz, der vor­hin Auf­ge­sprun­gene, salu­tiert und bahnt sich einen Weg zum Haupt­gang und wie­selt hek­tisch nach vorne zur Bühne.

Heintz: (gehetzt, als würde er mit den Auf­ga­ben, die die Welt ihm stellt, nicht wirk­lich fer­tig) Zur Stelle, Herr Kommissar!

Kom­mis­sar Horus: (igno­riert Heintz‘ Geba­ren) Gibt es schon Neues aus dem Leichenhaus?

Heintz geht zum Bei­stell­tisch, wo er die Akte her­vor­holt. Er wagt nur einen kur­zen Blick in Rich­tung der Lei­che, ehe er sich betont schnell abwen­det und einen schnel­len Schritt in Rich­tung Kom­mis­sar macht, dann aller­dings kurz innehält.

Heintz: (leise zu sich) Armes Ding. (er geht noch einen Schritt, hält aller­dings inne als falle ihm noch etwas ein. Heintz mar­schiert in zacki­gem Schritt zurück zum Stahl­tisch) Sie ver­zei­hen, junge Frau. (er greift nach dem Regen­schirm, klemmt ihn sich unter den Arm und kehrt nun zurück zum Kom­mis­sar, die Akte wie eine Ret­tungs­boje an seine Brust gepresst. Er über­reicht sie ohne Zögern.)

Kom­mis­sar Horus: (blät­tert in der Akte, ehe er seine Son­nen­brille mit der rech­ten Hand abnimmt und sin­nie­rend mit zusam­men­ge­knif­fe­nen Augen ins Publi­kum sieht) Es mag aus­se­hen wie ein nor­ma­ler Unfall mit Todesfolge.

Heintz: (spielt mit dem Regen­schirm) Es sieht aber aus wie ein Unfall mit Todesfolge.

Kom­mis­sar Horus: (erkun­digt sich spie­le­risch bei Heintz) Aber warum wür­den wir sonst geru­fen? Die Zufälle häu­fen sich.

Der Licht­ke­gel um den Kom­mis­sar und Heintz erlischt, statt­des­sen läuft nun eine neue Pro­jek­tion: vier ver­schie­dene Fahr­rad­fah­re­rin­nen wer­den gezeigt, die kurz dar­auf von einem Auto ange­fah­ren werden.

Erika

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