Liebeskummer par excellence

by Worteweberin Annika

Jane Aus­ten zele­briert in „Ver­stand und Gefühl“ den Lie­bes­kum­mer und lässt zwei Schwes­tern auf­ein­an­der tref­fen, die unter­schied­li­cher nicht über die Liebe den­ken könn­ten. Wie sich der Klas­si­ker von 1795 (ver­öf­fent­licht 1811) als moder­nes Hör­spiel macht, hat Worte­we­be­rin Annika herausgefunden.

Henry Dashwood hin­ter­lässt nach sei­nem Tod Grund und Besitz sei­nem Sohn aus ers­ter Ehe, John. Zwar ringt er ihm das Ver­spre­chen ab, für die drei Halb­schwes­tern Eli­nor, Mari­anne und Mar­ga­ret sowie deren Mut­ter zu sor­gen, aber schnell sind John und seine Frau Fanny sich einig: Die Dashwood-Frauen soll­ten eher ihnen noch etwas abge­ben und brau­chen ganz sicher keine Unter­stüt­zung. Das Fami­li­en­gut Nor­land Park müs­sen sie ver­las­sen und fin­den ein klei­nes Land­haus in Devonshire.

Zwei Schwes­tern

Kurz vor dem Umzug knüpft Eli­nor ein zar­tes Band zu Fan­nys Bru­der, Edward Fer­r­ars. Doch über seine Gefühle kann sie sich nicht sicher sein, zumal sie selbst nie den Ansprü­chen sei­ner Mut­ter gerecht wer­den könnte. Den­noch denkt sie in ihrem neuen Leben in Bar­ton Cot­tage noch weh­mü­tig zurück an Edward. Schließ­lich taucht Lucy Steele auf und macht Eli­nors lei­sen Hoff­nun­gen end­gül­tig zunichte: Seit Jah­ren ist sie mit Edward ver­lobt, erzählt sie. Eli­nor schluckt die bit­tere Pille, trägt den Lie­bes­kum­mer beson­nen und nach außen unberührt.

Die Gefühle der zwei­ten erwach­se­nen Schwes­ter Mari­anne sind ungleich über­bor­den­der: Sie träumt von Lei­den­schaft, Authen­ti­zi­tät, Aben­teuer und fin­det all das in John Will­oughby. Schnell sind die bei­den unzer­trenn­lich, doch dann reist Will­oughby über­stürzt aus Bar­ton ab. Ob er Mari­anne hei­ra­ten wird? In Lon­don hofft sie auf ein Wie­der­se­hen, doch hier war­ten wei­tere Ent­täu­schun­gen. Bei­den Schwes­tern muss erst kräf­tig das Herz gebro­chen wer­den, bevor sie ihr Glück fin­den können.

Miss­ver­ständ­nisse und Herzschmerz

Eli­nor liebt Edward Fer­r­ars, Mari­anne liebt Mr. Will­oughby, Oberst Bran­don liebt Mari­anne und Lucy Steele liebt Edward eben­falls. Klingt so kom­pli­ziert wie das echte Leben. Naja, oder wie das echte Leben Ende des 18. Jahr­hun­derts zumin­dest, als man für eine „pri­vate Kor­re­spon­denz“ noch ver­lobt sein musste, höchs­tens ver­klau­su­liert mit­ein­an­der sprach und Miss­ver­ständ­nisse daher prak­tisch vor­pro­gram­miert waren. Aus heu­ti­ger Sicht scheint man­ches, was Aus­ten beschreibt, fast unglaubwürdig.

„Ver­stand und Gefühl“ ist wie alle Aus­ten-Romane sicher­lich nicht jeder­manns Sache, denn auch wenn der Titel schon nahe­legt, dass hier Ver­stand und Gefühl aus­ge­spielt wer­den, geht es haupt­säch­lich um Her­zens­dinge. Neben­bei wer­den Aus­tens Zeit­ge­nos­sen aber tref­fend beschrie­ben. Hier beweist die Autorin eine gute Beob­ach­tungs­gabe und feine Iro­nie, die auch heute noch funk­tio­niert. Aus­tens Roman, der frü­her im Deut­schen noch als „Sinn und Sinn­lich­keit“ über­setzt wurde, hat sich sei­nen Platz unter den Klas­si­kern verdient.

Ein „Wie-kann-man-nur! auf zwei Beinen“?

Sehr erhel­lend ist der im Book­let ent­hal­tene Bei­trag von Denis Scheck zu „Ver­stand und Gefühl“. Der Lite­ra­tur­kri­ti­ker mit dem Ein­steck­tuch geht auf Jane Aus­tens (eher lang­wei­lige?) Bio­gra­fie ein, kom­men­tiert den For­schungs­stand zu „Ver­stand und Gefühl“ und erör­tert, ob man Aus­ten als unpo­li­ti­sche Autorin, als „Wie-kann-man-nur! auf zwei Bei­nen“ bezeich­nen sollte; immer­hin tobte gerade die Fran­zö­si­sche Revo­lu­tion, Europa ver­än­derte sich kom­plett, als Jane Aus­ten ihre ers­ten drei Romane schrieb und kein Wort dar­über verlor.

„Jane Aus­ten berührt das nicht. Sie ist ihre eigene Zeit. Zeit­ge­nos­sin von nie­man­dem.“ (Denis Scheck)

Auch wenn Napo­leon für Aus­ten mög­li­cher­weise wirk­lich nur der Grund für die feh­len­den aus­sichts­rei­chen Hei­rats­kan­di­da­ten auf dem eng­li­schen Land war, wie John Updike for­mu­lierte, ist sie für Scheck doch gerade des­we­gen auch poli­tisch: als Spie­gel ihrer Zeit, als tref­fende Beob­ach­te­rin. Scheck lobt ganz beson­ders die Szene, in der John und Fanny Dashwood das Erbe der Dashwood-Frauen auf aber­wit­zige Weise klein­re­den, die auch im Hör­spiel sehr gewitzt daher­kommt. Schecks Anmer­kun­gen wie­derum sind eine große Berei­che­rung des Booklets.

Wie klingt das 18. Jahrhundert?

Alex­an­der Schu­ma­cher setzt in sei­ner Hör­spiel­be­ar­bei­tung auf sich abwech­selnde Ich-Erzäh­le­rin­nen und ‑Erzäh­ler statt wie Aus­tens Roman­text auf eine aukt­o­riale Erzäh­lung. So kom­men die bei­den erwach­se­nen Dashwood-Schwes­tern und die Mut­ter abwech­selnd zu Wort – teil­weise wech­selt die Per­spek­tive bei jedem Satz. Nach­dem man sich in die­ser Erzähl­weise zurecht­ge­fun­den hat und die Stim­men zuord­nen kann, wird die Erzäh­lung dadurch direk­ter und lädt zum Mit­füh­len ein.

Der unter­schied­li­che Wis­sens­stand (Sind sie nun ver­lobt oder sind sie es nicht?) wird bemer­kens­wer­ter Weise auch in die­sem Modus nicht zum Pro­blem. Die dritte Dashwood-Schwes­ter Mar­ga­ret hat im Hör­spiel nur kurze Auf­tritte und spielt prak­tisch keine Rolle. Wer wie ich noch die Ver­fil­mung von 1995 mit Emma Thomp­son, Kate Wins­let und Hugh Grant vor Augen hat, wird das über­mü­tige Kind viel­leicht etwas vermissen.

„Ver­stand und Gefühl“ ist nach „Stolz und Vor­ur­teil“ und „Nort­han­ger Abbey“ das dritte Aus­ten-Hör­spiel im Hör­ver­lag. Mit Johanna Gast­dorf (Mary Dashwood), Birte Schnöik (Eli­nor Dashwood), Ulrich Noe­then (Oberst Bran­don) oder Fran­ziska Tro­eg­ner (Mrs Jen­nins) sind viele erfah­rene Spre­che­rin­nen und Spre­cher am Hör­spiel betei­ligt, die stimm­lich gut mit ihren Rol­len har­mo­nie­ren. Die Musik stammt von der Instant Music Fac­tory. Auf Kla­ri­nette, Gitarre und Kon­tra­bass zau­bern die drei Musi­ker zarte Klänge, die zwar gut zur dar­ge­stell­ten Zeit pas­sen, trotz­dem aber nicht ein­ge­staubt, son­dern unge­wöhn­lich klingen.

„Ver­stand und Gefühl“ ist auch im Hör­spiel eine Freude. Durch Schu­ma­chers Bear­bei­tung ersetzt das Hören nicht das Lesen. Die Spre­che­rin­nen und Spre­cher und die Musik ent­füh­ren aber so char­mant ins 18. Jahr­hun­dert, dass das Hör­spiel eine gute Auf­fri­schung oder Ein­stim­mung auf Aus­tens Roman­welt ist. Auch wenn man sich gerade selbst nicht im Lie­bes­kum­mer suhlt, ist „Ver­stand und Gefühl“ sehr hörenswert!

Ver­stand und Gefühl. Jane Aus­ten. Aus dem Eng­li­schen von Ursula und Chris­tian Grawe. Regie und Hör­spiel­be­ar­bei­tung: Alex­an­der Schu­ma­cher. Mit Johanna Gast­dorf, Birte Schnöik, Leo­nie Rai­ner u.a. Der Hör­ver­lag. 2020.

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