Life is strange – die Macht alltäglicher Entscheidungen

by Erzähldetektivin Annette

Wir tref­fen täg­lich Ent­schei­dun­gen, man­che groß, man­che klein. Soll ich ein Foto von die­sem Eich­hörn­chen machen? Möchte ich Musik hören oder lie­ber nicht? Gieße ich meine Zim­mer­pflanze? Auch Max Caul­field erlebt viele der­ar­tige Momente. Im Indie-Game „Life is strange“ dür­fen wir sie dabei beglei­ten. – Von Erzähl­de­tek­ti­vin Annette

Die Vor­stel­lung, der jun­gen Max durch ihren bana­len All­tag zu hel­fen, mag zunächst nicht beson­ders span­nend klin­gen. Unsere Zim­mer­pflan­zen kön­nen wir schließ­lich auch im rea­len Leben gie­ßen. Natür­lich sind der­ar­tige All­täg­lich­kei­ten nicht die ein­zige Zutat in „Life is strange“, dem ent­schei­dungs­ba­sier­ten Mys­tery-Adven­ture der fran­zö­si­schen Firma Dontnod. Doch ist es diese Tri­via­li­tät, die das Spiel von ande­ren Ver­tre­tern des popu­lä­ren Gen­res unterscheidet.

Von klei­nen und gro­ßen Katastrophen

Gleich zu Beginn des Spiels hat Max eine Vision: Sie sieht, wie ihre Hei­mat­stadt Arca­dia Bay von einem Tor­nado zer­stört wird. Da nur sie um das Schick­sal des klei­nen Küs­ten­städt­chens weiß, kann sie als ein­zige die dro­hende Kata­stro­phe abwen­den. Im Laufe der Hand­lung muss Max viel­leicht nicht der gan­zen Welt hel­fen, die Ret­tung ihres klei­nen Ost­küs­ten­or­tes hat es jedoch in sich.
Gleich­zei­tig hat sie noch ganz andere Pro­bleme: Nach fünf Jah­ren ist die 18-Jäh­rige gerade erst in ihren Hei­mat­ort zurück­ge­kehrt, um an der renom­mier­ten Black­well Aca­demy Foto­gra­fie zu stu­die­ren. Ihre ehe­mals beste Freun­din Chloe sieht sie zum ers­ten Mal wie­der und die neu erblü­hende Freund­schaft steht unter kei­nem guten Stern. Das Ver­schwin­den von Chloes Freun­din Rachel Amber über­schat­tet nicht nur das Leben der rebel­li­schen jun­gen Frau. In der Black­well Aca­demy herr­schen hin­ge­gen Intri­gen, Mob­bing und Macht­kämpfe – wer nicht über das nötige Klein­geld ver­fügt, scheint kaum eine Chance zu haben. Max selbst ist schüch­tern und unsi­cher und zwei­felt nicht sel­ten an ihrem künst­le­ri­schen Talent.

Kurzum: Erzählt wird vor allem das Leben eines Teen­agers an der Schwelle zum Erwach­sen­wer­den, mit all den Schwie­rig­kei­ten, Sor­gen und Nöten, die die­ser Lebens­ab­schnitt mit sich bringt. Die erste Liebe wird ebenso the­ma­ti­siert wie nicht erwi­derte Gefühle. Psy­cho­ter­ror und Ein­sam­keit gehen nicht nur in der Black­well Aca­demy Hand in Hand. Auch andere Ein­woh­ner des Küs­ten­städt­chens haben mit schwie­ri­gen Lebens­si­tua­tio­nen zu kämp­fen. Sor­gen um die anste­hende Prü­fung spie­len ebenso eine Rolle wie Geld­not auf­grund sta­gnie­ren­der Wirt­schaft. Selbst vor The­men wie Ver­ge­wal­ti­gung, Umwelt­ver­schmut­zung, Glau­bens­krise, Dro­gen­sucht, Depres­sio­nen und Sui­zid schreckt „Life is strange“ nicht zurück.

Ent­schei­dun­gen und ihre Folgen

Da tritt Maxs Fähig­keit, in der Zeit zurück zu rei­sen, bei­nahe in den Hin­ter­grund. Spie­ler haben alle Hände voll zu tun, das schüch­terne Mäd­chen durch sei­nen immer skur­ri­le­ren All­tag zu füh­ren und dabei mehr als einem Bewoh­ner Arca­dia Bays unter die Arme zu grei­fen. Immer wie­der müs­sen Ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den. Anders als bei ande­ren Ver­tre­tern des Gen­res geschieht dies jedoch nicht unter Zeit­druck. Viel­mehr geht es um das sorg­fäl­tige Abwä­gen mög­li­cher Fol­gen, denn nicht sel­ten haben schein­bar kleine Ent­schei­dun­gen große Aus­wir­kun­gen auf die Zukunft. An man­chen Stel­len nimmt das Dilemma der Ent­schei­dungs­si­tua­tion die Spie­ler bei­nahe phy­sisch mit.

Nicht sel­ten ist man sich sei­ner Sache hun­dert­pro­zen­tig sicher, nur um einige Spiel­stun­den spä­ter fest­zu­stel­len, wie immens die Aus­wir­kun­gen tat­säch­lich sind. Dann ist es jedoch zu spät und eine Ände­rung nicht mehr mög­lich. Denn Max kann immer nur bis zur letz­ten Schlüs­sel­szene zurück­rei­sen, dann ver­las­sen sie ihre Kräfte und sie muss sich erst rege­ne­rie­ren. An die­ser Stelle sei erwähnt, dass „Life is strange“ aus fünf Epi­so­den besteht, die jeweils einen Tag der Woche abde­cken. Auf diese Weise wird dem Spie­ler eine immense Ver­ant­wor­tung auf­ge­tra­gen, mög­lichst alle Fol­gen abzu­wä­gen, bevor er sich für eine Hand­lungs­op­tion ent­schei­det. Mit die­ser Ein­schrän­kung gelingt es den Spie­le­ma­chern geschickt, völ­lige Belie­big­keit zu ver­hin­dern und statt­des­sen die Span­nung auf­recht zu erhal­ten. Nicht zuletzt erin­nert „Life is strange“ damit auch an Filme wie „But­ter­fly Effect“, die phi­lo­so­phi­sche Über­le­gun­gen bezüg­lich Zeit, ihrer Ver­gäng­lich­keit und ihres Zusam­men­hangs anstellen.

Gerade vor die­sem Hin­ter­grund fällt nega­tiv auf, wenn sich die Hand­lungs­frei­heit des Spie­lers doch nur als Schein ent­puppt. Mehr­mals kann eine Spiel­si­tua­tion erst dann ver­las­sen wer­den, wenn die – aus Sicht der Ent­wick­ler – „rich­tige“ Ent­schei­dung getrof­fen wor­den ist. An eini­gen Stel­len mag das Gefühl auf­kom­men, wich­tige Hand­lungs­op­tio­nen stün­den gar nicht erst zur Ver­fü­gung. Letzt­end­lich ist die Geschichte als Gesamt­kon­zept durch­ge­plant, in das bestimmte Hand­lungs­op­tio­nen ein­fach nicht rein­pas­sen. Den­noch ist posi­tiv zu bewer­ten, dass sie in aller Regel als Mög­lich­kei­ten nicht von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen werden.

Fri­scher Wind im Videospiel-Genre

„Life is strange“ hat sei­nen Spie­lern eini­ges zu bie­ten. Die sich lang­sam ent­fal­tende Erzähl­weise erin­nert an „Heavy Rain“ und ent­wi­ckelt einen ähn­lich star­ken Sog. Die Com­ing-of-age-The­ma­tik ist zumin­dest im Video­spiel-Genre erfri­schend und bie­tet ihrem Publi­kum eine grö­ßere Iden­ti­fi­ka­ti­ons­flä­che als es nor­ma­ler­weise üblich ist. Die lie­be­voll insze­nierte Welt, der ruhige, aber pas­sende Indie-Sound­track, die vie­len pop­kul­tu­rel­len Anspie­lun­gen und die Cha­rak­tere, die nach und nach immer mehr Facet­ten offen­ba­ren, machen „Life ist strange“ zu einem Spiel­ver­gnü­gen, des­sen phi­lo­so­phi­sche Über­le­gun­gen noch lange nach­hal­len wer­den. Bei einem ein­ma­li­gen Durch­spie­len wird es wohl sel­ten bleiben.

Life is strange. Ent­wick­ler: DONTNOD Enter­tain­ment. Publis­her: Square Enix. 2015. Platt­form: PC, PS3, PS4, Xbox 360, Xbox One. Genre: Mys­tery-Adven­ture. Anzahl Spie­ler: Sin­gle­player. Spiel­zeit: ca. 2 Stunden/Episode, fünf Epi­so­den. Alters­frei­gabe: 12.

Ein Bei­trag in der Reihe um ent­schei­dungs­ba­sierte Spiele.

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