Man lernt nie aus

by Bücherstadt Kurier

Zei­len­schwim­me­rin Ronja ist kein Fan von Geschichts­bü­chern. Das liegt haupt­säch­lich an ihren Erfah­run­gen wäh­rend der Schul­zeit. Geschichts­bü­cher waren immer weit­aus lang­wei­li­ger, älter und unschö­ner als die meis­ten ande­ren Schul­bü­cher, sogar die Text­auf­ga­ben in Mathe­ma­tik und Phy­sik waren span­nen­der. Doch die­ses Buch ist anders. 

GermanyMemoriesOfANation_dtÜber Geschichts­bü­cher

Geschichts­bü­cher. Das sind für mich grün­braune, schwere Klum­pen mit dicht gedräng­tem Text aus Namen und Daten mit eini­gen weni­gen Schwarz-Weiß-Bil­dern in schlech­ter Qua­li­tät. 13 Jahre Schule und wei­tere Jahre mit Biblio­theks­be­su­chen haben die­sen Ein­druck immer wie­der bestä­tigt. Und dann kommt die­ses Buch daher…
„Ger­many – Memo­ries of a Nation“ („Deutsch­land – Erin­ne­run­gen einer Nation“) ist durch­aus ein schwe­res Buch, aber da enden die Ähn­lich­kei­ten mit mei­nem fest­ge­präg­ten Bild eines Geschichts­buchs auch schon. Es ist weder grün­braun (son­dern schwarz mit einer alten Ver­sion der Deut­schen Natio­nal­flagge dar­auf), noch ist der Text dicht­ge­drängt (son­dern in anstän­di­ger Größe und gut les­ba­rer Schrift gesetzt). Natür­lich ent­hält es Namen und Daten, doch dazwi­schen befin­det sich ver­ständ­li­cher Inhalt! Wenn es wenigs­tens Schwarz-Weiß-Bil­der hätte… Aber auch da: Nichts zu machen! Zahl­rei­che far­bige (!) Bil­der, große Bil­der, qua­li­ta­tiv hoch­wer­tige Bil­der. Mein Welt(geschichtsbuch)bild ist dahin.

Ver­geb­li­cher Kritikversuch

Meine Hoff­nung war, einen ande­ren Kri­tik­punkt zu fin­den, um danach sagen zu kön­nen: „Ha! Die­ses Geschichts­buch ist doch nicht ernst zu neh­men!“ Ich ver­suchte etwas an der Per­son des Autors auszusetzen.
Neil Mac­Gre­gor ist Brite. Kann ein Brite ein (soweit dies über­haupt men­schen­mög­lich ist) objek­ti­ves Bild von Deutsch­land zeich­nen, wo doch die Bezie­hun­gen von Bri­ten und Deut­schen durch den Zwei­ten Welt­krieg teil­weise immer noch stark belas­tet sind? Die Ant­wort: Ich weiß nicht, ob es jeder Brite könnte, doch Neil Mac­Gre­gor kann es offen­kun­dig. Sein Ton über die Deut­schen ist durch­ge­hend neu­tral. Die his­to­ri­schen Fak­ten wer­den weder beschö­nigt noch heruntergespielt.

Geschichte wird verständlich

Es ist eine ganz eigene Art, mit der Mac­Gre­gor – ehe­ma­li­ger Direk­tor der Natio­nal Gal­lery und des Bri­tish Museum – 500 Jahre deut­scher Geschichte beschreibt. Anhand von Orten und Objek­ten ver­deut­licht er nicht nur his­to­ri­sche, son­dern auch poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Zusam­men­hänge und nimmt dabei inner­halb eines Kapi­tels oft auch Sprünge zwi­schen meh­re­ren Jahr­zehn­ten oder Jahr­hun­der­ten vor, ohne dass dabei die Ver­ständ­lich­keit auf der Stre­cke bleibt. Im Gegen­teil, es erleich­tert das Ver­ständ­nis sogar.
Wahr­schein­lich ist es Mac­Gre­gors Her­an­ge­hens­weise, die meine Begeis­te­rung für die­ses Geschichts­buch geweckt hat. Denn es ist mehr als ein Geschichts­buch, da es auch kunst­his­to­ri­sche und kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Anteile ent­hält. Eigent­lich logisch, da Kunst und Kul­tur immer in einem zeit­li­chen Kon­text ent­ste­hen und nicht sel­ten Poli­tik und Gesell­schaft beein­flus­sen bzw. von ihr beein­flusst werden.
Mac­Gre­gors Buch macht einen sehr gut recher­chier­ten Ein­druck. Viel­leicht ist es für „echte“ His­to­ri­ker zu popu­lär aus­ge­rich­tet, doch ich finde es bewun­derns- und lobens­wert, wenn jemand die Moti­va­tion und das Talent besitzt, fach­wis­sen­schaft­li­ches Wis­sen an „Nor­mal­sterb­li­che“ zu vermitteln.

Ein Buch als Vermittler

GermanyMemoriesOfANation_EngNoch dazu trägt Neil Mac­Gre­gor mit sei­nem Buch zur inter­kul­tu­rel­len Ver­stän­di­gung bei, indem er damit eini­gen Bewoh­nern der eng­lisch­spra­chi­gen (und vor allem bri­ti­schen) Welt Deutsch­land viel­leicht etwas näher bringt. Daher wurde er 2015 auch mit dem Fried­rich-Gun­dolf-Preis für Ver­mitt­lung deut­scher Kul­tur im Aus­land der Deut­schen Aka­de­mie für Spra­che und Dich­tung und aus glei­chem Grund mit dem Deut­schen Natio­nal­preis der Deut­schen Natio­nal­stif­tung ausgezeichnet.
Aber nicht nur die Bri­ten kön­nen die Deut­schen durch die­ses Buch bes­ser ver­ste­hen ler­nen. Wir selbst kön­nen es auch. Durch „Ger­many – Memo­ries of a Nation“ habe ich einige Dinge gelernt, die ich vor­her nicht wusste. Man­che Eigen­hei­ten des heu­ti­gen Deutsch­lands, sei­ner Bewoh­ner und ihrer Spra­che haben jetzt einen Hin­ter­grund bekom­men, den ich vor­her nicht kannte. Aber vor allem ist mir klar gewor­den, dass Geschichts­bü­cher nicht immer ster­bens­lang­wei­lig sein müs­sen. Man lernt nie aus.

Eng­li­sche Aus­gabe: Ger­many – Memo­ries of a Nation. Neil Mac­Gre­gor. Allen Lane/Penguin Books. 2014
Deut­sche Aus­gabe: Deutsch­land – Erin­ne­run­gen einer Nation. Neil Mac­Gre­gor. Klaus Bin­der (Über­set­zer). C.H.Beck. 2015. Hier geht es zur deut­schen Leseprobe.

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