Einsame, verlassene Seele: Menschenseele

by Zeichensetzerin Alexa

Man­che Bücher las­sen mich fra­gend zurück. Aber muss ein Buch wirk­lich immer eine Aus­sage haben, Ant­wor­ten lie­fern oder gar die Lösung für jedes Pro­blem? Ganz sicher nicht. Dies bestä­tigte mir auf indi­rekte Weise Véro­ni­que Bizot mit ihrem neuen Roman „Men­schen­seele“. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

Bizot_Menschenseele_Cov_Aufsicht.inddDie­ses Buch ist in einem Rutsch gele­sen, aber „ein­fach“ ist es des­halb kei­nes­wegs. Was bereits zu Beginn auf­fällt, sind die ver­wo­be­nen Sätze, Schach­tel­sätze, die viel beschrei­ben und doch wie­der nicht. Denn was erzählt wird, ist gele­sen und wie­der ver­ges­sen, nur um dann spä­ter wie­der ins Gedächt­nis zurück zu krie­chen. Das Lese­er­leb­nis ließe sich auf­grund der Spra­che mit einem Sog ver­glei­chen: Satz um Satz um Satz – es ist mir unmög­lich, mit dem Lesen auf­zu­hö­ren. Die feh­len­den Absätze und Anfüh­rungs­stri­che bei Dia­lo­gen ver­stär­ken noch die­sen nicht enden wol­len­den Sog. Ein­zig die Ein­tei­lung in Kapi­tel för­dert die Denkpausen.

Zusam­men ein­sam sein

Einer unend­li­chen Wen­del­treppe gleich ist auch die Geschichte: Es geht voran, aber wird man jemals ankom­men? Vier Män­ner, einer davon der „stille“ Ich-Erzäh­ler, bege­ben sich auf eine Reise nach Ita­lien. Und doch geht es weder um diese Reise noch um sons­tige Bege­ben­hei­ten, son­dern viel­mehr um die Per­sön­lich­keit der vier Prot­ago­nis­ten: Da ist der mis­an­thro­pi­sche Thea­ter­au­tor Fouks, ein geheim­nis­vol­ler Fan, ein Über­set­zer und des­sen Bru­der, der Ich-Erzäh­ler. Sie spre­chen mit­ein­an­der und sie schwei­gen sich an.

Hin­sicht­lich die­ser Frage der Ein­sam­keit sagte Fouks, das sei ein mit aller Prio­ri­tät anzu­stre­ben­der wie auch mit aller Prio­ri­tät zu flie­hen­der Zustand, und da er stän­dig zwi­schen dem einen und dem ande­ren geschwankt habe, sei er zu der Schluss­fol­ge­rung gelangt, dass es ebenso wenig eine ideale Ein­sam­keit wie eine ideale Gesell­schaft gebe, nichts als ein gro­tes­ker Auf­ruhr der Ner­ven, sodass Mon­toya es sei­ner Mei­nung nach höchst­wahr­schein­lich unse­rem unver­hoff­ten Erschei­nen in sei­nem Blick­feld ver­danke, in letz­ter Minute die Selbst­be­herr­schung wie­der­erlangt zu haben. (S. 42)

„Men­schen­seele“

In Bizots Spra­che liegt etwas Melan­cho­li­sches und Geheim­nis­vol­les, sodass ein­zig ihr Stil aus­reicht, um selbst die banalste Geschichte inter­es­sant zu machen. Andeu­tun­gen auf das Unglück, das den Eltern die­ser Brü­der wider­fah­ren ist, hal­ten die Span­nung auf­recht. Hier wird jedoch keine Span­nung kon­stru­iert, wel­che die Leser bei Laune hal­ten soll. Sie ent­wi­ckelt sich eher aus der Frage her­aus, wohin die Reise die Prot­ago­nis­ten füh­ren mag – auch meta­pho­risch gese­hen. Denn nicht umsonst trägt das Buch den Titel „Men­schen­seele“. Es geht mehr um das Innen­le­ben, die Gedan­ken, die Gefühle, die eigene Iden­ti­tät und weni­ger um das Drum­herum. Der Kör­per ist nur der Kokon, in des­sen Inne­rem die Men­schen­seele wächst. Man­ches tritt sicht­bar her­vor, man­ches bleibt wei­ter­hin tief ver­bor­gen. Der Ich-Erzäh­ler ist ein gutes Bei­spiel hierfür:

Gib mir wenigs­tens ein Zei­chen, sagte er, ein Lächeln, irgend­was, und er run­zelte die Stirn oder schlug mit der Faust auf die Möbel. Ich stellte die Tel­ler, zwei Tel­ler, auf den Tisch, wäh­rend er Nudeln kochte. Mein Bru­der redete, ich hörte zu, wie ich allem zuhörte, das Gesicht allen Mün­dern zuge­wandt. (S. 21)

Zurück­ge­las­sen

Doch so sehr ich mich auch bemühe, Ant­wor­ten auf meine Fra­gen zu fin­den – am Ende werde ich mit einem Gefühl zurück­ge­las­sen, das nah an das der Prot­ago­nis­ten her­an­kommt: Was auch immer ich tue, ich kann das Leben und all die Dinge, die gesche­hen – die Tra­gö­dien, die Kata­stro­phen, den Schmerz – nicht erklä­ren. Noch weni­ger aber kann ich vor­aus­se­hen, was gesche­hen wird oder die Ver­gan­gen­heit wie­der zurück­dre­hen und Ent­schei­dun­gen ändern.

[…] und von da an kann ich mir nicht mehr ganz genau ver­ge­gen­wär­ti­gen, wie die Dinge ablie­fen, was mir vor­her leicht gefal­len war, als ich ledig­lich beob­ach­tet und zuge­hört hatte, und mir das, was ich beob­ach­tete und hörte, auch wenn es bereits, wie ich jetzt weiß, mein Leben war, damals nur als ein Hin­ter­grund, eine Grund­lage, eine Art Land­schaft erschie­nen war, in der ich kei­ner­lei echte Funk­tion hatte. (S. 125)

Bizot macht die­ses Gefühl des „Zurück­las­sens“ oder „Ver­las­sens“ nicht nur durch ihre Prot­ago­nis­ten deut­lich, son­dern auch durch ihren Erzähl­stil. Das, was sie schreibt, schwappt unmit­tel­bar auf die Lesen­den über – und da ist es voll­kom­men irrele­vant, wie die Hand­lung gestal­tet ist oder wie viel die Prot­ago­nis­ten erle­ben. Wir kön­nen nicht das Gesamte erfas­sen, alles sehen, alles um uns herum gleich wahr­neh­men. Die 142 Sei­ten bie­ten dem­nach nur einen klei­nen Ein­blick in eine Phase des Lebens von vier Männern.

„Men­schen­seele“ über­zeugt sprach­lich sowie inhalt­lich mit lite­ra­ri­scher Qua­li­tät und eig­net sich vor allem für die­je­ni­gen, die gerne anspruchs­volle Lite­ra­tur lesen oder sich mit Tex­ten lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich auseinandersetzen.

Men­schen­seele. Véro­ni­que Bizot. Steidl Ver­lag. 2016.
Aus dem Fran­zö­si­schen von Tobias Schef­fel und Clau­dia Steinitz.

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