NACHT-SCHRECK #Todesstadt

by Bücherstädterin Silvia

Flink und uner­kannt huscht er durch die Gas­sen der Klein­stadt, springt von Schat­ten zu Schat­ten und mei­det jede Licht­quelle, wo er nur kann. An einer Stra­ßen­ecke hält er, sicher ver­steckt hin­ter einer Müll­tonne, an und lauscht in die Fins­ter­nis hin­aus. Er war­tet dar­auf, dass sie ihn rufen, so wie jede Nacht.
Um sie bes­ser hören zu kön­nen, schließt er die Augen. Es hat bis­her noch keine ein­zige Nacht gege­ben, in der er sich umsonst auf die Suche bege­ben hätte; zuver­läs­sig kom­men sie, auf die er war­tet, immer wie­der und ebenso zuver­läs­sig rufen sie nach ihm.
Tat­säch­lich dau­ert es nicht lange, bis er eine ent­spre­chende Bot­schaft wahr­nimmt, gesen­det auf einer Wel­len­länge, die für alle anders­ar­ti­gen Wesen uner­kenn­bar ist. Sei­nen eigens dar­auf aus­ge­rich­te­ten, fei­nen Rezep­to­ren aber ent­geht kein ein­zi­ges Signal – die Jagd­zeit kann beginnen!
Rasch, aber laut­los ver­folgt er das Geräusch bis zu sei­nem Ursprung zurück: ein altes, nicht mehr sehr robust wir­ken­des Haus nicht unweit des Stadt­ran­des, zwei­ter Stock. Kurz über­legt er, die Ein­gangs­tür zu nut­zen, aber irgend­wie ist ihm heute nicht nach Trep­pen­stei­gen. Statt­des­sen flitzt er die Haus­wand hin­auf, schnel­ler als jeder Fas­sa­den­klet­te­rer und viel bes­ser getarnt.
Im zwei­ten Stock­werk ange­kom­men, huscht er raf­fi­niert durchs geschlos­sene Fens­ter, so als wäre es das ein­fachste der Welt. Es geht zu rasch, als dass ein Men­schen­auge es wahr­neh­men könnte; außer­dem, selbst wenn sie sei­nem Trick auf die Schli­che kämen, wür­den die sei­ner Mei­nung nach ziem­lich begriffs­stut­zi­gen Zwei­bei­ner sowieso ihren eige­nen Augen nicht trauen. Immer­hin glau­ben diese Pri­mi­ti­ven tat­säch­lich noch an Unmög­lich­keit… Tsss!
Auf dem Fens­ter­sims ver­wei­lend sieht er sich kurz um. Der Raum ist in rela­tive Dun­kel­heit getaucht, die Vor­hänge sind aller­dings nicht dicht genug, um das Mond­licht ganz aus­zu­sper­ren. Für seine Wahr­neh­mung macht es kei­nen Unter­schied, wie hell es ist oder nicht; selbst in tiefs­ter Schwärze kann er pro­blem­los alles sehen. Aller­dings hat er gelernt, den sze­nisch-dra­ma­ti­schen Effekt von Licht nicht zu unter­schät­zen; wie viele in sei­nem Métier ist auch er ein Lieb­ha­ber von Thea­tra­lik und Pathos geworden.
Im Raum befin­det sich nebst diver­sen ande­ren Möbel­stü­cken ein Ein­zel­bett, in dem ein Mann schläft, circa um die drei­ßig, das blonde Haar bereits von sil­ber­nen Sträh­nen durch­zo­gen. Sein Atem geht schnell und ungleich­mä­ßig, unru­hig wirft er sich hin und her und stößt dabei immer wie­der selt­sam klin­gende Laute aus. Seine Gesichts­züge sind alles andere als ent­spannt, sie sind zu einer Gri­masse aus Angst, Panik und Grauen ver­zerrt. Alles schreit förm­lich nach „Alp­traum“ – das per­fekte Opfer für das Wesen auf dem Fenstersims.
Die kleine kobold­ar­tige Gestalt grinst hämisch. Sie liebt die­ses Schau­spiel, das sich ihr hier zum wie­der­hol­ten Mal bie­tet, sie genießt es und kann gar nicht genug davon bekom­men. In man­chen Näch­ten sitzt sie oft minu­ten­lang nur davor und saugt die­ses Bild in sich auf; je schlim­mer und aus­drucks­vol­ler die Sym­ptome des Träu­men­den desto besser.
In die­ser Nacht aber ist er unge­dul­dig, der Alp, der von man­chen auch Mahr genannt wird – solange sie ihn nur aus­rei­chend fürch­ten, ist es ihm egal, wel­che Namen sie ihm geben. Er springt vom Fens­ter­sims, hopst hin­über zum Bett und im nächs­ten Moment sitzt er dem Schla­fen­den schon auf der Brust.
Dies ist sein liebs­ter Moment: Wenn es ihn nach unten zieht in die unend­li­chen Tie­fen der mensch­li­chen Alp­träume und er sieht, was sie sehen. Ihre Sor­gen, ihre Ängste, ihre Geschichte. Kaum zu glau­ben, was es da alles zu sehen gibt. Auch wenn sich vie­les wie­der­holt, die „mensch­li­chen Basics“ wie er das nennt, so war­tet doch auch nach all den Jah­ren ab und zu eine Über­ra­schung auf ihn. In die­ser Hin­sicht ist er recht genüg­sam; es macht ihm nichts aus, immer und immer wie­der das glei­che mit­zu­er­le­ben. Haupt­sa­che es ist schön grau­en­voll und grau­sig. Seine liebs­ten Aus­drü­cke gehö­ren alle­samt in die­ses Wort­feld. Und ja, er ist rich­tig stolz darauf.
Kaum sitzt der Alp auf dem Schla­fen­den, wird er in die Szene hin­ein­ge­so­gen und ‑gezo­gen. Fol­gen­des spielt sich dort ab: Aus den Augen des Träu­men­den schaut der Alp von der Straße aus zum Dach eines mehr­stö­cki­gen Gebäu­des hin­auf, wo ein Mann viel zu nahe am Abgrund steht, das schwarze Haar zer­zaust, der Man­tel offen, die Augen auf die des nun Schla­fen­den gerich­tet, wie man auch von hier unten aus wahr­neh­men kann. Instink­tiv weiß der Alp, dass es sich dabei um den bes­ten Freund des Träu­men­den han­delt; ein­mal im Traum, hat er Zugang zu allen damit ver­knüpf­ten Gedan­ken und Gefüh­len des Menschen.
Er wirkt ver­lo­ren da oben, der Schwarz­haa­rige, irgend­wie fehl am Platz und doch trägt er einen Aus­druck der Ent­schlos­sen­heit. Es ist abseh­bar, was nun gesche­hen wird.
Der Alp spürt das Herz des Schla­fen­den wie ver­rückt schla­gen, fast so, als wäre es sein eige­nes. Er spürt die Über­ra­schung, die zu Ungläu­big­keit wird und sich dann in Angst und Panik ver­wan­delt. Er hört seine Gedan­ken, die aus einem end­lo­sen Strom von „Nein, nein, nein, nein, nein, …!“ zu bestehen schei­nen. Er fühlt, wie die Furcht alle Glie­der des Zuschau­en­den lähmt und alles nur noch aus die­sem ein­zel­nen Moment zu bestehen scheint.
Genau in dem Moment, als der Schla­fende laut den Namen des Schwarz­haa­ri­gen nach oben brüllt, brei­tet die­ser die Arme aus, schließt die Augen und lässt sich fallen.
„Episch“, denkt sich der Alp. Plötz­lich spielt sich alles in Zeit­lupe ab; genau der dra­ma­ti­sche Effekt, den er sich gewünscht hat.
Mit­leid kennt er nicht, Mit­ge­fühl ebenso wenig. Eigent­lich iro­nisch, da er doch in den Träu­men alles wie seine Opfer wahr­nimmt, alles fühlt wie sie. Je inten­si­ver, desto bes­ser. Es ist der Adre­na­lin­rausch, nach dem er süch­tig ist. Tief ein­tau­chen und dann unbe­scha­det wie­der dar­aus hervorgehen.
Im Traum ist die Welt des Schla­fen­den zer­stört, sie liegt zer­trüm­mert am Boden wie der reg­lose Kör­per unweit von ihm. Er bekommt keine Luft mehr, kann nicht mehr atmen, geht zu Boden. Der Alp beob­ach­tet, wie der Mann sich auf allen Vie­ren vor­wärts kämpft, in Rich­tung sei­nes Freun­des. Er greift nach des­sen Hand­ge­lenk, tas­tet nach einem Puls, aber da ist nichts mehr. Nur Leere und Stille. Ungläu­big­keit senkt sich erneut über den Schla­fen­den. „Das kann nicht sein… kann nicht sein… es kann nicht sein… nein, nein, nein, nein, nein…!“
Fas­zi­niert von der mensch­li­chen Fähig­keit zu füh­len, beob­ach­tet ihn der Alp. Etwas, was er schon so oft gese­hen hat und von dem er doch noch nicht genug hat, noch lange nicht.
Der Träu­mende steht unter Schock. Nichts mehr ist wie es war. So viele Worte unge­sagt, so viele „hätte“ und „könnte“ und „würde“. Wie soll er das jemals überstehen?
Da ver­nimmt der Alp plötz­lich ein lei­ses Pfei­fen in sei­nen Ohren, ein Signal dafür, dass der nächste Alp­traum anderswo auf ihn war­tet. Kurz über­legt er, wägt ab, ob er es nicht noch ein wenig hin­aus­zö­gern soll. Jetzt, wo es so schön dra­ma­tisch ist.
Er prüft das Signal. Längst hat er gelernt, aus des­sen Fein­hei­ten her­aus­zu­hö­ren, ob sich der Weg zu des­sen Ursprung über­haupt lohnt. Die­ses hier hört sich ver­däch­tig gut an; nach etwas, was genau sei­nem Geschmack ent­spre­chen könnte. Also ent­schei­det sich der Alp mit einem letz­ten Blick auf die Szene vor ihm dafür, den Schla­fen­den aus sei­nem Traum zu ent­las­sen und seine Nacht anderswo fortzusetzen.
Mit die­sem Ent­schluss wird er aus dem Traum her­aus­ka­ta­pul­tiert und springt von der Brust des Schla­fen­den. Die­ser ist ver­schwitzt und wim­mert leise, die Laken sind zer­wühlt, sein Gesicht in Schmer­zen ver­zerrt. Es wird noch einige Sekun­den dau­ern, bis er auf­schre­cken wird, fürs Erste erlöst und doch auch wie­der nicht.
Auf dem Fens­ter­sims hält der Alp kurz inne und blickt auf den Schla­fen­den zurück. Aus irgend­ei­nem Grund weiß er, dass es sich bei der eben gese­he­nen Szene im Traum nicht um irgend­wel­che Fan­ta­sien des Unter­be­wusst­seins han­delt, son­dern um eine Erin­ne­rung des Man­nes. Wenn er erwacht, wird zwar die­ser Moment ver­schwun­den, sein Freund aber noch immer tot sein.
Der Alp zuckt mit den Schul­tern. Es ist gut, dass er kein Mensch ist; er ist froh dar­über. Die merk­wür­di­gen Zwei­bei­ner schei­nen manch­mal ganz schön unter ihren Gefüh­len zu lei­den. Ein kur­zer Gedanke, der gleich wie­der ver­schwin­det und ver­ges­sen ist.
Gleich­gül­tig wen­det sich der Alp ab. Er huscht durchs Fens­ter, die Haus­wand hin­un­ter, in die Nacht hin­aus. Man ruft nach ihm. Auf zu einem neuen Drama!

Text: Vers­e­flüs­te­rin Silvia
Illus­tra­tion: Feder­schrei­be­rin Kristina

Ein Bei­trag zum Spe­cial #Todes­stadt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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