Nacktbaden für Anfänger

by Worteweberin Annika

In einer Zeit, als es noch unschick­lich war, sich als Frau vor einem Mann die Schuhe anzu­zie­hen, gerät die junge Clara unver­se­hens in eine Gruppe Men­schen, die sich, badend und zeich­nend, voll­kom­men nackt an einem See ver­gnü­gen. In „Die Badende von Moritz­burg“ von Ralf Gün­ter ver­än­dert die Begeg­nung mit der Künst­ler­gruppe „Die Brü­cke“ die Welt einer jun­gen Frau. Worte­we­be­rin Annika hat Clara nach Moritz­burg begleitet.

Wegen ihrer Atem­not kommt Clara aus dem leben­di­gen Ber­lin ins lang­wei­lige Sana­to­rium in Dres­den. Immer wenn ein Hei­rats­kan­di­dat um ihre Hand anhält, schnürt sich ihre Kehle zu. Dage­gen sol­len Luft­bä­der, Ruhe und vege­ta­ri­sche Kost hel­fen, doch der triste All­tag im Sana­to­rium gefällt Clara gar nicht. Da kommt der neue Arzt Dr. Brand­stät­ter gerade rich­tig, der an Clara nicht nur die brand­neuen Metho­den des Sig­mund Freud tes­tet, son­dern sie auch zu einem Aus­flug ins nahe Moritz­burg ein­lädt. Hier stol­pert Clara über die nack­ten Künst­ler und ihre Modelle, die als Lebens­re­for­mer mit den Kon­ven­tio­nen der Zeit brechen.

„Und die Grenze zwi­schen dem Ich und dem Du ist eine scharf gezo­gene. Wenn ich einen Men­schen ganz erfas­sen will, muss ich diese Grenze über­schrei­ten. Ich muss er wer­den. Oder sie.“

Von dem fri­vo­len Ver­hal­ten und der frem­den Lebens­ein­stel­lung ist die junge Ber­li­ne­rin zuerst ent­setzt, doch ande­rer­seits: Warum eigent­lich nicht? Clara ver­bringt einen Tag am See mit den Künst­lern der „Brü­cke“, gibt sich Ernst Kirch­ner hin und wird zur Frau. Doch natür­lich muss sie nach dem erleb­nis­rei­chen und far­ben­fro­hen Som­mer­tag zurück­keh­ren in ihr rich­ti­ges Leben.

Eine span­nende Zeitreise

„Die Badende von Moritz­burg“ ent­führt die Lesen­den ins Deutsch­land der 1910er Jahre und trans­por­tiert beein­dru­ckend leicht­fü­ßig das Lebens­ge­fühl jener Zeit. Obwohl der Text nur knapp 100 Sei­ten lang ist, ganz ohne beleh­rend schul­buch­ar­tig zu erschei­nen, wer­den sehr viele The­men der dama­li­gen Zeit ange­spro­chen: Sig­mund Freuds Psy­cho­ana­lyse, die gegen die gesell­schaft­li­chen Regeln auf­be­geh­ren­den Lebens­re­for­mer, die Zwänge des Anstands, die Mili­tär­ein­sätze und Ein­stel­lun­gen zu den deut­schen Kolo­nien in Afrika und natür­lich die Auf­fas­sung von Kunst der „Brücke“-Maler. Dabei lässt sich die Novelle gut an einem lan­gen, war­men Som­mer­abend weg lesen.

Die Cha­rak­tere wir­ken inter­es­sant und viel­schich­tig und die Geschichte lädt zum Mit­fie­bern ein: Wie soll Clara sich ver­hal­ten, für was für ein Leben wird sie sich am Ende ent­schei­den? „Die Badende von Moritz­burg“ bie­tet damit span­nen­des und sti­lis­tisch schön ver­pack­tes Geschichts­wis­sen und Unter­hal­tung in einem. Und es macht Lust, die Bil­der der „Brücke“-Künstler (neu) zu entdecken.

Die Badende von Moritz­burg. Eine Som­mer­no­velle. Ralf Gün­ter. Kind­ler. 2017.

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