Niceville – Eine Symphonie des Grauens

by Bücherstadt Kurier

Carsten Stroud_Niceville„Cars­ten Strouds Nice­ville-Tri­lo­gie ist genial, und das Beste hat er sich bis zum Schluss auf­ge­ho­ben.“ Mit die­sen Wor­ten lobt nie­mand gerin­ge­res als Hor­ror-Meis­ter Ste­phen King die drei Bände des kana­di­schen Autors. Für Erzähl­de­tek­ti­vin Annette ist klar: Wenn ihr Lieb­lings­au­tor etwas emp­fiehlt, lohnt sich ein Blick.

Am Anfang war Rai­ney Teague

Die Geschichte beginnt mit dem Ver­schwin­den des zehn­jäh­ri­gen Rai­ney Teague. Er ist der Fix­punkt der Erzäh­lung. Neben Rai­ney ler­nen wir auch Mavis Cross­fire und Nick Kava­n­augh ken­nen, Poli­zis­ten, die nach dem Jun­gen suchen. Außer­dem erfah­ren wir von Tal­lu­lahs Wall und Cra­ter Sink, zwei Orten im beschau­li­chen Süd­staa­ten-Städt­chen Nice­ville, die eine zen­trale Rolle für die Gescheh­nisse spielen.
Die fol­gen­den Kapi­tel füh­ren immer neue Erzähl­stränge ein, in deren Mit­tel­punkt wir ganz unter­schied­li­che Per­so­nen ken­nen ler­nen: Char­lie Danz­in­ger und sei­nen bes­ten Freund Coker. Delia Cot­ton und ihre Main-Coon Katze Mild­red Pierce. Byron Dietz und seine Frau Beth. Gly­nis Ruelle und ihre Schwes­ter Clara Mercer. Lemon Fea­ther­light und Mor­gan Litt­le­bas­ket. Auf den ers­ten Blick haben die Geschich­ten nicht viel mit­ein­an­der zu tun. Die Abwechs­lung der ein­zel­nen Epi­so­den macht Nice­ville jedoch zu einem kurz­wei­li­gen Lesevergnügen.

Nach und nach führt Stroud die Schick­sale der Men­schen zusam­men. Dabei ist es nicht immer ganz leicht, die ein­zel­nen Per­so­nen und ihre Bezie­hun­gen aus­ein­an­der zu hal­ten. Das Ende des ers­ten Ban­des wirkt sehr abrupt und die Leser füh­len sich in der Luft hän­gen gelas­sen. Die Zusam­men­füh­rung gelingt in den fol­gen­den Büchern sehr viel besser.

Nice­ville ist kein net­ter Ort

Carsten Stroud_Die RückkehrGeschickt ver­webt der Autor Kri­mi­nal­fälle mit über­na­tür­li­chen Ele­men­ten und erzählt im Hin­ter­grund eine Geschichte, die immer ent­setz­li­chere Aus­maße annimmt. So lang­sam wird klar, was Hor­ror-Meis­ter Ste­phen King an den Büchern gefal­len hat. Unter den beschrie­be­nen Umstän­den zwei­feln Strouds Figu­ren regel­mä­ßig an ihrer geis­ti­gen Gesund­heit. Schade ist jedoch, dass sie sich selbst für eine so abge­drehte Welt wie die von Nice­ville unlo­gisch verhalten.

So schei­nen die Erleb­nisse des ers­ten Ban­des in Teil zwei „Die Rück­kehr“ wie weg­ge­wischt. Nach­dem Nick Kava­n­augh selbst Zeuge eini­ger – sagen wir „eigen­ar­ti­ger“ – Gescheh­nisse wurde, sollte er die dro­hende Gefahr erken­nen kön­nen. Statt­des­sen igno­riert er bewusst die offen­sicht­li­chen Hin­weise und erklärt sich alles aus sei­nem als Poli­zist reich­hal­ti­gen Erfah­rungs­schatz mit mensch­li­chen Straf­ta­ten heraus.

Viel­leicht möchte Stroud sei­nen Figu­ren ein­fach eine starke Selbst­täu­schung unter­stel­len. Viel­leicht soll uns ihr Ver­hal­ten gerade die ganz mensch­li­che Eigen­schaft vor Augen füh­ren, Dinge zu igno­rie­ren, die wir nicht ver­ste­hen kön­nen. Aber wis­sen die Prot­ago­nis­ten nicht schon viel mehr und könn­ten sich der über­na­tür­li­chen Gefahr viel frü­her und viel plan­vol­ler stel­len? Die Situa­tion ver­schlim­mert sich rasant, wäh­rend gleich­zei­tig die Ursprünge immer wei­ter in der Zeit zurück­ver­folgt wer­den. Dafür, dass Nice­ville bereits seit hun­der­ten von Jah­ren ein Pro­blem zu haben scheint, eska­liert die Situa­tion schließ­lich viel zu schnell in nur weni­gen Monaten.

Carsten Stroud_Der AufbruchLei­chen pflas­tern sei­nen Weg

Im drit­ten Band „Der Auf­bruch“ gelangt die Geschichte schließ­lich zu ihrem bru­ta­len und blu­ti­gen Höhe­punkt. Die geschil­der­ten Ereig­nisse sind nichts für Zart­be­sai­tete und der Lek­türe vor dem Ein­schla­fen ist abzu­ra­ten. Wer sich jedoch durch die Berge an Kör­per­tei­len, weg­ge­schos­se­nen Köp­fen, durch­trenn­ten Kör­pern und auf dem Boden ver­teil­ter Gedärme kämpft, der wird belohnt mit einer Erzäh­lung, die so rasant an Schnel­lig­keit zunimmt, dass man das Buch vor Span­nung kaum noch aus der Hand legen möchte.
Der Auf­bruch ist gespickt mit unvor­her­seh­ba­ren Wen­dun­gen, die das Lesen zu einem wah­ren Ver­gnü­gen machen. Auch sti­lis­tisch hat sich der Autor im Ver­lauf der Romane deut­lich wei­ter ent­wi­ckelt. Er fin­det den Mut, sich sei­ner eige­nen Spra­che zu bedie­nen, die die eigen­sin­nige Erzähl­weise bes­tens unterstützt.

Die Ernüch­te­rung folgt auf dem Fuße

Bei all der auf­kom­men­den Dra­ma­tik und den geweck­ten Erwar­tun­gen ist es jedoch umso ent­täu­schen­der, dass die große Schwach­stelle der Nice­ville-Tri­lo­gie ihr Ende ist. Hier gelingt es Stroud nicht, die gege­be­nen Ver­spre­chen ein­zu­hal­ten. Viel­leicht hat er vor­her ein­fach zu hoch gepokert?
Die Auf­lö­sung erin­nert ein wenig an eine Dr. House-Epi­sode: Über 90 Pro­zent der Zeit bleibt des Rät­sels Lösung in wei­ter Ferne, bis schließ­lich mit einem gro­ßen Rund­um­schlag alles geklärt wer­den soll. Doch schafft es Stroud nicht, sämt­li­che Fra­gen zu beant­wor­ten. Auch das „Sechs Monate später“-Sequel besteht ledig­lich aus einer Anein­an­der­rei­hung kli­schee­be­haf­te­ter Happy Ends.

Fazit

Cars­tens Strouds Nice­ville-Tri­lo­gie lässt ihre Leser­schaft sprach­los zurück. Teil­weise ist dies der Genia­li­tät geschul­det, mit der die ein­zel­nen Hand­lungs­stränge erst eta­bliert, dann mit­ein­an­der ver­wo­ben und schließ­lich auf einen gemein­sa­men Nen­ner gebracht wer­den. Doch ver­wehrt es das schwa­che Ende den Lesern, zu einem Abschluss gelan­gen zu kön­nen. Das soll alles gewe­sen sein? Mehr Erklä­rung gibt es nicht?

Ins­ge­samt gibt sich der Autor jedoch große Mühe, seine Leser mit­zu­neh­men. Im Ver­lauf des zwei­ten und beson­ders des drit­ten Ban­des lässt er immer wie­der kurze erklä­rende Sätze ein­flie­ßen, die die bis­he­rige Hand­lung zusam­men­fas­sen. Wirk­lich ver­ste­hen lässt sich die Geschichte nur als Tri­lo­gie, die in mög­lichst nicht allzu gro­ßem Abstand zuein­an­der gele­sen wer­den sollte. Auf diese Weise kann die umfang­rei­che Geschichte ihr gesam­tes Poten­tial entfalten.

Und viel­leicht zeigt sich im Finale ja das Genie des Autors. Even­tu­ell sind die Fra­gen bewusst unbe­ant­wor­tet, bie­tet das Ende absicht­lich die Mög­lich­keit zur per­sön­li­chen Deu­tung. Mög­li­cher­weise hatte Stroud das Kon­zept eines Stan­ley Kubrik oder eines Alain Robbe-Gril­let vor Auge. Wer über das offene Ende hin­weg­se­hen kann, der wird an Strouds Nice­ville-Tri­lo­gie mit Sicher­heit seine Freude haben. Zum ein­ma­li­gen Lesen sind die Romane in jedem Fall zu empfehlen.

Nice­ville. Cars­ten Stroud. 2012. Dumont. Aus dem ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch von Dirk van Gunsteren.
Die Rück­kehr. Cars­ten Stroud. 2013. Dumont. Aus dem ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch von Robin Detje.
Der Auf­bruch. Cars­ten Stroud. 2015. Dumont. Aus dem ame­ri­ka­ni­sche Eng­lisch von Daniel Hauptmann.

Weiterlesen

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr