„Nix da mit Konförderdingsbums; wir wollen Westen werden!“

by Bücherstadt Kurier

Mit „89/90“ legt Peter Rich­ter einen auto­bio­gra­fi­schen Wen­de­ro­man vor, der die The­ma­tik aus einem ande­ren Licht beleuch­tet. Aus dem Licht eines Fünf­zehn- bzw. Sechs­zehn­jäh­ri­gen. Die­ses locker leicht geschrie­bene Com­ing of Age-Buch erhielt zu Recht eine Nomi­nie­rung für den Deut­schen Buch­preis, aber begin­nen wir, wie es sich gehört: Vorne!

Som­mer 1989: Der Prot­ago­nist erlebt die Zeit wie die meis­ten sei­ner Alters­ge­nos­sen. Haupt­säch­lich nachts im Frei­bad oder tags­über auf der „Rue“, wo sie die „Flics“ (Poli­zis­ten) pro­vo­zie­ren. Zwi­schen­durch Schule, Ein­wei­sung in die sozia­lis­ti­sche Pro­duk­tion einer Ziga­ret­ten­fa­brik, das letzte Wehr­la­ger aller Zei­ten und viel wich­ti­ger: Das Grün­den einer Band. Doch zunächst muss ein Name her, der immer wie­der ver­wor­fen und durch einen noch bes­se­ren ersetzt wird. Da bleibt keine Zeit, um auch noch ein Instru­ment spie­len zu lernen.
Schon gar nicht, wenn man die L. ken­nen­lernt. Eine echte Kom­mu­nis­tin. Nicht, weil sie es sein muss, son­dern weil sie es sein will. Etwas Exo­ti­sche­res kennt der Prot­ago­nist bis zu die­sem Zeit­punkt nicht. Da kann nicht mal der Trans­ves­tit mit­hal­ten, der in der Nach­bar­schaft wohnt.
Doch sein Kum­pel S. kennt sich aus, hat Kon­takte und vor allem den Durch­blick. Man han­gelt sich von Ereig­nis zu Ereig­nis. Von einem ille­ga­len Kon­zert zum nächs­ten Tref­fen in der Plat­ten­sied­lungs­kir­che, wo der dicke Hip­pie „Kiste“ Suppe kocht.

„Im Grunde waren wir von Anfang an in dem Bewusst­sein auf­ge­wach­sen, dass es bei uns trost­los war, aber es war eben bei uns – und das war nun ein­mal der Ort, wo das Aben­teuer unse­res Auf­wach­sens stattfand.“

Aber die Stim­men wer­den lau­ter. Die Stim­men derer, die vor allem Rei­se­frei­heit for­dern und diese schluss­end­lich auch bekom­men. Plötz­lich steht er da, der Bun­des­kanz­ler. Er steht da neben dem klei­nen grauen Männ­chen „Mod­row“ und nennt alle Bür­ger der DDR „seine Freunde“. Und plötz­lich ste­hen auch sie da… mit ihren Bom­ber­ja­cken, in denen weiße Kugel­schrei­ber ste­cken und mit ihren kahl­ra­sier­ten Köp­fen. Auch sie wit­tern ihre Chance.
Ein Jahr der abso­lu­ten Anar­chie beginnt. Die Behör­den (wenn sie denn noch wel­che sind) ken­nen ihren Stand­punkt nicht oder haben ihn ein wenig nach rechts ver­la­gert. In all­dem Gewirr besetzt man dann eben ein paar Häus­chen oder wenigs­tens eine Woh­nung, aus denen dann Klubs wer­den, in denen unglaub­lich viel geraucht, getrun­ken und phi­lo­so­phiert wird.

Fast neben­bei bricht der Krieg aus. Der Krieg zwi­schen Rechts und Links und den­noch bleibt er weit­ge­hend unbe­merkt. Die Erwach­se­nen haben ganz andere Pro­bleme. Ist ihr Haus noch etwas wert? Wür­den sie mor­gen noch Arbeit haben? Wo sind denn die gan­zen Ver­wand­ten und Nach­barn hin? In den Kran­ken­häu­sern gibt es keine Ärzte mehr. Alle drü­ben! Aber was soll man tun? Am nächs­ten Mor­gen steht die Mathe­ar­beit an und Staats­bür­ger­kunde… gibt es nicht mehr. Die Leh­re­rin dazu auch nicht.

Peter Rich­ter schafft eine unglaub­lich leben­dige Ver­gan­gen­heit und dabei erzählt er nicht schon wie­der die­selbe Geschichte. Er erzählt von einer in sich geschlos­se­nen Welt, die ihre ganz eigene Sicht­weise auf die Dinge hatte. Er erzählt ganz nach­voll­zieh­bar, wie es dazu kom­men konnte, dass sich plötz­lich ein so gro­ßer Teil der Bevöl­ke­rung nach so weit rechts ori­en­tierte. Und er erzählt davon, was zwi­schen den Zei­len geschah.
Dabei gibt es zwei Eigen­hei­ten, die die­ses Buch auf­weist. Es kommt kom­plett ohne wört­li­che Reden aus und das ziem­lich gut. Der Autor ver­steht es den­noch flüs­sig und ver­ständ­lich ein­zu­bet­ten, was wer wann gesagt hat.
Die zweite Beson­der­heit ist, dass sehr viele Per­so­nen aus dem Umfeld des Prot­ago­nis­ten nur mit einem Buch­sta­ben abge­kürzt wer­den. Der S., die L., der große M. usw. Je mehr Sei­ten man liest, desto stär­ker muss man über­le­gen, wer nun gemeint war. Es gibt zwar auch einige, die mit Spitz­na­men oder Eigen­schaf­ten beti­telt wer­den, aber den­noch gerät man immer wie­der ins Sto­cken. Davon abge­se­hen ist das Buch eines der bes­ten, die ich je gele­sen habe. Die Kom­bi­na­tion aus Geschichte, jugend­li­cher Sicht­weise, Authen­ti­zi­tät sowie den unzäh­li­gen (teils äußerst wit­zi­gen) Anek­do­ten, macht dar­aus ein ech­tes Lesevergnügen.

Marco

89/90. Peter Rich­ter. Luch­ter­hand Lite­ra­tur­ver­lag. 2015.

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