Och, Kalle! #litadvent

by Bücherstadt Kurier

Ich saß trotz dezem­ber­li­cher Tem­pe­ra­tu­ren am Spring­brun­nen vor dem Würz­bur­ger Bahn­hof und schaute auf meine abge­tra­ge­nen Sprin­ger­stie­fel. Eine Schön­heit waren sie nicht gerade. Irgend­wie kon­tras­tier­ten die neon­grü­nen Schnür­sen­kel mit mei­nen pink-weiß-schwarz-karier­ten Leg­gins. Wenigs­tens hatte ich alle Farb­töne wie­der­keh­rend in mei­nen Haaren.
„Werd mal erwach­sen, Olpi“, hatte meine beste Freun­din Tini, eine Jura­stu­den­tin, vor einer Weile gesagt. Natür­lich in Hör­weite mei­ner Eltern.
Pffff. Ich war doch erst zwei­und­zwan­zig, Kin­der­geld gibt es bis fünf­und­zwan­zig, also was woll­ten die eigentlich?
Kalle kam ange­lau­fen – bes­ser ange­schwankt. Er war schon rela­tiv alt, aber seine 90 Kilo Kör­per­ge­wicht trüb­ten den Blick der meis­ten. „Willst‘n Bier?“ Da die Dose schon offen war, die er mir hin­hielt, schüt­tete er es eher über mich, als es mir zu reichen.
„Kalle, pass doch auf! Du bist schon wie­der ange­trun­ken. Dabei ist noch nich‘ mal Heiligabend.“
„Hei­lig­abend?“ Er bekam einen Lach­an­fall und hus­tete dabei.
Umständ­lich setzte er sich neben mich. „Wie jedes Jahr werde ich bei mei­ner Frau auf dem Fried­hof hocken und mich danach ärgern, dass ich am Mor­gen danach doch wie­der neben dem Grab aufwache.“
„Och, Kalle!“ Er schaffte es jedes Mal, dass ich trau­rig wurde. Oder sauer. Oder wütend. Oder alles gleich­zei­tig. Ich über­legte, ob ich mir diese Gefühle in ein neues Tat­too hin­ein­ste­chen las­sen sollte. Ein sich auf­bäu­men­der asia­ti­scher Dra­che. Und Feuer!
Kalle riss mich aus mei­nen abschwei­fen­den Gedan­ken. „Was hast du gegen den Fried­hof, Olpi? Da sind wenigs­tens keine Leute an die­sem Tag. Also auch keine Anste­ckungs­ge­fahr.“ Er grinste sein Kalle-Grin­sen, bei dem zwei Zähne fehl­ten. Wenigs­tens in dem Punkt musste ich ihm wohl oder übel zustimmen.
Er klopfte mir derb auf die Schul­ter. „Machs­ten am Vierundzwanzigsten?“
„Weiß nicht.“
„Hast doch ‘ne Fami­lie, das is was anne­res. Meine is-“
„Auf dem Fried­hof, ich weiß.“ Hitze strömte in mei­nen Kopf.
Ich wusste beim bes­ten Wil­len nicht, wieso mich das Thema so auf­regte. Ich nahm einen Schluck vom Bier. Wenigs­tens war die Plörre durch die Jah­res­zeit ange­nehm kühl.
„Weißt du, die Fami­lie labert nur Zeug, was ich nicht hören will, und Tini, ach, sie ist so eine ver­snobte Stu­den­tin geworden.“
„Aber sie lässt es nich‘ raus­häng‘. Und ich hätte gern jemand‘, der Zeug labert.“ Das Wort Zeug betonte er unna­tür­lich stark, so als wäre er auf ein­mal wütend.
„Das will doch aber kei­ner hören.“ Ver­steh einer diese Menschen.
„Du viel­leicht nich. Aber sie machen es ja nich, weil‘se dich ärgern woll‘n. Se ham Angst um dir.“
Immer, wenn Kalle einen zu viel getrun­ken hatte, kam sein fal­sches Ber­li­ne­risch durch. Dabei wohnte er schon viele Jahre hier in Unter­fran­ken. Auf einem Grün­strei­fen.
„Hmmm.“ Ach, Kalle, ey. Das machte mich schon wie­der unnö­tig sen­ti­men­tal. „Willste meine Fami­lie haben?“
Der Tat­too-Dra­che vor mei­nem inne­ren Auge fauchte.
„Nee, Olpi, der Zug ist raus. Ich sterbe die­ses Jahr auf dem Fried­hof. Möge es kalt wer­den in die­ser Nacht.“ Dabei warf er einen hoff­nungs­vol­len Blick gen Himmel.
Okay, das reichte. Ich stand auf. „Muss was erle­di­gen, wir sehn uns.“
„Klar, sind ja noch ein paar Tage bis zu mei­nem Able­ben.“ Er winkte wie die Queen und warf mir Küss­chen zu.
„Das ist nicht lus­tig, Kalle.“

Drei Tage noch bis Hei­lig­abend. Ich saß in mei­nem Zim­mer im Sozi­al­bun­ker, in dem meine Eltern ihre Woh­nung hat­ten – obwohl sie beide arbei­te­ten – und dachte mit Blick auf die Stadt nach. Es war kalt gewor­den. Ich fragte mich, was Kalle machte. Seit zwei Tagen hatte ich mein Zim­mer nur noch zum Pin­keln und für den Kühl­schrank ver­las­sen. Warum? Nun, das Tat­too-Stu­dio hatte mich end­gül­tig ver­stimmt. Eige­nes Design in einer bestimm­ten Größe, meh­rere hun­dert Öcken. Hätte ich mir den­ken kön­nen. Die­ses Mal hat sich Piksi auch nicht her­un­ter­han­deln las­sen. Konnte ihm ja schlecht mei­nen Hin­tern anbie­ten. Verdammt.
Tinis Stimme „Du musst aus die­sem Milieu raus“ ver­mischte sich in mir mit dem Zer­reiß­ge­räusch, das Dra­chen­kral­len ver­ur­sa­chen, wenn sie etwas zer­fet­zen. Es wird dich nicht geben, lass mich in Ruhe, herrschte ich den Dra­chen inner­lich an.
Dann guckte er wie der Hund mei­ner Ex. Die hatte mir gerade noch gefehlt. Raus aus mei­nen Gedan­ken, beide! Ich nahm meine Kopf­hö­rer und blies mir die Poi­son Girls auf die Ohren. Geile Punk­band, lei­der 1987 auf­ge­löst. Zumin­dest einen Moment lang war ich glück­lich und ich hörte das Klin­geln an der Tür nicht mehr, war nicht meine Bau­stelle. Zu mir kam kei­ner. Nicht mal mehr Tini. Komi­scher­weise waren bis­her keine Vor­würfe über mein Ver­hal­ten sei­tens der Fami­lie gekommen.
Mut­ter arbei­tete sich im Bür­ger­büro kaputt und mein Vater – was machte der eigent­lich die ganze Zeit? Hatte ihn län­ger nicht gese­hen, fiel mir auf. War auch egal. Oder? Was, wenn es diese Fami­lie bald nicht mehr geben würde? Kalle und seine ver­que­ren Ansa­gen ver­folg­ten mich.
Der Dra­che in mei­nem Inne­ren schüt­telte trau­rig den Kopf. „Du bist still“, äußerte ich laut, obwohl er gar nichts gesagt hatte.

Hei­lig­abend. So ein Mist! Ich hatte es nicht geschafft, die Woh­nung noch ein­mal zu verlassen.
Mut­ter klopfte an. „Kann ich reinkommen?“
Ich erhob mich von mei­nem Bett und öff­nete die Tür. „Klar.“
Wenn sie mir jetzt erzählte, dass sich meine Eltern tren­nen woll­ten, würde ich aus­flip­pen. Aber die Lage musste ernst sein, ihrem Gesicht nach. Das war‘s dann mit Fami­lie. Sogar der Dra­che drehte sich von mir weg.
Der­weil setzte sich meine Mut­ter auf das unor­dent­li­che Bett und starrte mein Tote-Hosen-Pos­ter an.
Unru­hig tip­pelte ich mit dem Fuß auf dem Boden rum.
„Ich weiß, du wirst gleich explo­die­ren, aber-“
Das war‘s! Ich warf mich auf den Boden, schrie und heulte, bevor sie wei­ter­spre­chen konnte. Wusste nicht mal wieso, weil mir diese Fami­lie eh nichts bedeu­tete. Egal, was Kalle sagte. Aber Mut­terns Herz, die Über­ar­bei­tung, sie war auch nicht mehr die jüngste und über­haupt. Irgend­wann rea­li­sierte ich ihren merk­wür­di­gen Blick. Ich schniefte und setzte mich anstän­dig hin.
„Kann ich weitersprechen?“
Unter übels­ter Anstren­gung bekämpfte ich die nächste Heul­krampf-Atta­cke. Der Dra­che reichte mir eine ima­gi­näre Taschen­tuch­box. Trot­zig zog ich den Nasen­in­halt hoch.
„Dein Vater wird Weih­nach­ten nicht da sein. Da habe ich mir gedacht, wir könn­ten Kalle einladen.“
„Säu­fer-Kalle? Was sol­len wir denn die ganze Zeit mit ihm reden? Er will doch eh nur ster­ben.“ Ich war irri­tiert. Was war das denn für eine Ansage von ihr? Sie kannte ihn doch kaum.
„Den Kalle, der jetzt schon mehr­fach hier geklin­gelt hat und sich nach dei­nem Befin­den erkun­digte.“ Sie hob die Hand, als ich was ein­wen­den wollte. „Und das, obwohl er pani­sche Angst vor Anste­ckung hat, wie er mir erzählte. Ich habe ihm ein Bett in einer Not­un­ter­kunft besorgt.“
Ich öff­nete den Mund, wollte was sagen, aber die Gedan­ken spran­gen so hin und her, dass ich kei­nen Laut herausbekam.
„Ich nehme das mal als ein Ja?“ Sie lächelte und stand auf.
Meine Ver­wir­rung war der­art gewach­sen, dass selbst der Dra­che nicht wusste, ob er Feuer speien oder rülp­sen sollte. „Warte mal! Was ist jetzt mit Vater?“
„Ach, ja, der hat einen künst­le­ri­schen Auf­trag bekom­men und musste dazu ver­rei­sen. Lei­der – du kennst dei­nen Vater – hat er sich wenig Gedan­ken um das Datum gemacht, als er zusagte.“
„Oh. Also trennt ihr euch nicht?“
Jetzt schaute sie irri­tiert. „Wieso soll­ten wir?“
Ich zuckte mit den Schul­tern. Und kam mir doof vor.
„Angst­hase“, zischte der Dra­che. Vie­len Dank auch.
Mut­ter ver­ließ mein Zim­mer mit den Wor­ten: „Ich muss jetzt eini­ges vor­be­rei­ten, mach dich für das Abend­essen fer­tig, damit du dann vor­zeig­bar bist.“
Frü­her hätte mich das ‚vor­zeig­bar‘ übel auf­ge­regt. Als wäre ich das so nicht. Ich schaute auf meine ver­schie­de­nen Socken in den Bade­schlap­pen und die Unter­hose, die ich schon zwei Tage anhatte.
„Ich geh ja schon unter die Dusche!“, brüllte ich den Dra­chen an.

Kurz vor 18 Uhr klin­gelte es.
„Öffne mal bitte, Olpi, ich hab mit dem Vogel zu kämpfen.“
Ich tat, wie mir gehei­ßen, drückte den Tür­sum­mer und war­tete auf das Fahr­stuhl­ge­räusch. Immer­hin waren wir im zehn­ten Stock. Es blieb aus, ich steckte einen Klotz in die Tür und lief zum Lift. Auf dem Schild von der War­tungs­ein­heit stand: Defekt. Groß­ar­tig. Natür­lich machen die an Fei­er­ta­gen auch nix. Den Auf­preis waren wir der Haus­ver­wal­tung nicht wert.
Jemand schnaufte sich der­weil die Trep­pen hoch.
Ich trat ans Gelän­der und schaute run­ter. „Kalle!“
„Olpiiii!“ Ein Hus­ten­an­fall folgte.
„Mach mal lang­sam!“, schrie ich über die Etagen.
„Schnel­ler geht’s auch nicht!“, schrie er zurück.
Okay, das konnte noch dauern.
Irgend­wann hatte es Kalle geschafft. Er sah anders aus.
„Kalle, sind das pas­sende Kla­mot­ten? Wow!“
Er klopfte mir grob auf die Schul­ter, drehe sich dann ein­mal im Kreis. „Ein Weih­nachts­ge­schenk dei­ner Mut­ter. Sie hat mei­nen Anblick nicht ertra­gen und mich ins C&A geschleift.“ Dabei lachte er sein Kalle-Lachen.
Wir gin­gen hinein.
Mut­ter kam kurz aus der Küche. „Hallo Kalle, ich bin gleich fer­tig, setzt euch schon mal hin.“
„Na hör ma, kann ma dir was helfen?“
Als Kalle das so sagte, fiel dem Dra­chen in mir auf, dass ich das hätte auch mal fra­gen kön­nen. Wie wurde ich den bloß wie­der los? Aber er hatte ja recht.

Nach dem Essen sagte Kalle: „Das ist das schönste Weih­nach­ten, das ich je hatte.“ Dann schaute er betrof­fen auf sei­nen lee­ren Tel­ler. „Seit meine Heidi tot ist.“
Bis­her war ich froh gewe­sen, dass die­ser Fried­hofs-Ster­be­quatsch von Kalle nicht zur Spra­che kam. Um dies auch für den Rest des Abends zu ver­mei­den, räus­perte ich mich. „Du, Kalle, … meinst du, wir sol­len nach­her gemein­sam ans Grab gehen?“ Es kam mir sel­ber komisch vor, aber es war wohl der Dra­che, der aus mir sprach.
Kalle schaute mich an. „So als Freunde? Oder willst du nur, dass ich mich da nicht besaufe und-“
„Kalle!“
„Schon gut, würde mich sehr freuen.“
Der Dra­che wurde lang­sam über­mäch­tig. „Heute Abend wirst du hier im Wohn­zim­mer schla­fen. Keine Widerrede.“
Kein tadeln­der Blick von Mut­ter. Im Gegenteil.

Als ich spät am Abend in mein Zim­mer ging, kam meine Mut­ter gerade aus dem Bad. Sie hielt mich am Arm fest.
„Ich bin heute wirk­lich stolz auf dich gewe­sen, mein Olpi.“
Dann knud­delte sie mich.
„Lass das!“, rief mein altes Ich.
Der Dra­che umarmte sie fest.

Text: June Is (@ypical_writer)
Illus­tra­tion: Sei­ten­künst­ler Aaron

Ein CLUE-Bei­trag zum Spe­cial #lit­ad­vent. In die­sem Jahr haben wir drei Clues vor­ge­ge­ben, die in den krea­ti­ven Tex­ten auf­tau­chen soll­ten: Tat­too, Schnür­sen­kel, Grün­strei­fen. Was sich die AutorIn­nen aus­ge­dacht haben, könnt ihr hier lesen.

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