Perfektion – Was ist das?

by Bücherstadt Kurier

Wenn man sich nicht ein­mal auf die Zeit ver­las­sen kann, wor­auf dann? Als 1972 der Zeit zwei Sekun­den hin­zu­ge­fügt wer­den, beginnt das schein­bar per­fekte Leben des elf­jäh­ri­gen Byron aus den Fugen zu geraten...

Zwei Sekun­den sind nicht viel, sollte man mei­nen, aber für Byron Hem­mings bedeu­ten sie die ganze Welt. Denn gerade in dem Moment, als an der Zeit her­um­ge­spielt wurde, beginnt das Unheil. Byrons Mut­ter ver­ur­sacht einen Auto­un­fall, in den ein klei­nes Mäd­chen ver­wi­ckelt ist, doch außer ihm scheint nie­mand zu glau­ben, was vor­ge­fal­len ist. Bald scheint seine Mut­ter die Fami­lie nicht mehr wie gewohnt, näm­lich per­fekt, zusam­men­hal­ten zu kön­nen: Sie hat Geheim­nisse und benimmt sich immer selt­sa­mer, wäh­rend der strenge Vater immer öfter abwe­send ist. Mit sei­nem bes­ten Freund James ver­sucht Byron, das Chaos zu bewäl­ti­gen. Dabei fragt er sich, wem er die Schuld daran geben soll, dass sein gewohn­tes Leben aus­ein­an­der­bricht. Sei­ner Mut­ter, sich selbst oder doch den zwei Sekunden?

Vier­zig Jahre spä­ter ver­bringt Jim sein Leben zwi­schen sei­ner Arbeit in einem Café und den selt­sam anmu­ten­den Ritua­len sei­ner Zwangs­stö­rung. Er weiß, wenn er seine Rituale nicht per­fekt durch­führt, geschieht den Men­schen in sei­ner Umge­bung etwas Schlim­mes. Dabei ver­schließt er sich immer mehr in sei­ner eige­nen Welt. Doch Jim will über seine Ver­gan­gen­heit nicht nach­den­ken. Bis er der lau­ten Eileen begeg­net, die in ihrem Wesen genau sein Gegen­teil ist. Bald wird klar, dass auch Jim nicht von den Ereig­nis­sen ver­schont geblie­ben ist, die von den zwei Sekun­den ins Rol­len gebracht wurden.

Was ist Per­fek­tion? Gibt es sie überhaupt?

Je tie­fer man in die Geschichte ein­taucht, desto erschre­cken­der erscheint das Bestre­ben der Figu­ren nach Per­fek­tion. Denn in ihren Fas­sa­den bil­den sich Risse, die immer wei­ter auf­bre­chen. Dar­un­ter tre­ten ver­drängte Ver­gan­gen­hei­ten, Unzu­frie­den­hei­ten, Feind­se­lig­kei­ten und Ängste zum Vorschein.
Gerade wenn man als Leser denkt, man weiß, wie die Geschichte wei­ter­ge­hen muss, voll­zieht sie eine neue über­ra­schende Wen­dung. Eine Wen­dung, die zwar sub­til daher­kommt, aber weit­rei­chende Kon­se­quen­zen hat. Je wei­ter sich das Schick­sal von Byron und Jim ent­spinnt, umso grö­ßer wer­den die Dimen­sio­nen der Ereig­nisse, die die bei­den Leben mit­ein­an­der verbinden.

Rachel Joyce, die auch schon mit „Die unwahr­schein­li­che Pil­ger­reise des Harold Fry“ die Leser berührt hat, lie­fert mit „Per­fect“ ein lei­ses, aber sehr span­nen­des Buch vol­ler Poe­sie und Phi­lo­so­phie ab. Dabei wird die Span­nung fast voll­stän­dig durch die Figu­ren erzeugt, denen hier Leben ein­ge­haucht wird. Unglaub­lich gut beob­ach­tet, wenn­gleich auch manch­mal etwas über­zeich­net, tre­ten diverse Men­schen­ty­pen auf den Plan, die einen Schnitt durch die Gesell­schaft abbil­den. Sub­til und fein­füh­lig wächst die Span­nung allein durch das Zusam­men­tref­fen ver­schie­de­ner Men­schen. Es braucht keine Hol­ly­wood-Action, um Kon­flikte und ganz per­sön­li­che Tra­gö­dien dar­zu­stel­len. Die Gefühle las­sen sich auch still vermitteln.

„Per­fect“ ist ein idea­les Buch für lange Zug­fahr­ten, bei denen man auch mal grü­belnd aus dem Fens­ter schauen kann. Denn wenn man als Leser immer tie­fer in Byrons und Jims Leben gezo­gen wird, fragt man sich unwei­ger­lich, was denn Per­fek­tion ist: Eig­net man sie sich an? Kann man sie lang­fris­tig auf­recht­erhal­ten, oder ist sie etwas Flüch­ti­ges: Ein Ding von Sekun­den­bruch­tei­len? Und wie geht man damit um, wenn plötz­lich nichts mehr per­fekt zu sein scheint?

Maike

Per­fect (Deutsch: Das Jahr, das zwei Sekun­den brauchte), Rachel Joyce, Ver­lag: Dou­ble­day, 2013 (Deutsch: FISCHER Krü­ger, 2013)

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1 comment

amethyststurm 20. September 2014 - 13:52

Hat dies auf ame­thyst­sturm reb­loggt und kommentierte:
Manch­mal bekommt man ein Buch aus hei­te­rem Him­mel und dazu über­haupt keine vor­ge­fe­sigte Mei­nung. Dass es auch mal gut sein kann, nicht von einem Buch zu wis­sen und zu erwar­ten, hat sich diese Woche bei „Per­fect“ von Rachel Joyce gezeigt.
Erst war ich skep­tisch bei einem Buch, das u.a. von der Daily Mail gelobt wird, aber plötz­lich hatte ich die fast 450 Sei­ten inner­halb von drei Tagen durch­ge­le­sen – ich konnte, was neu­er­dings eher sel­ten bei mir vor­kommt, das Buch kaum aus der Hand legen...

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