Rätselhafte Liebe und das Nachtleben von Paris

by Buchstaplerin Maike

Buch­stap­le­rin Maike hat sich ein sprach­li­ches Expe­ri­ment vor­ge­knöpft: Nach 30 Jah­ren ist zum ers­ten Mal Anne Gar­ré­tas Roman „Sphinx“ auf Deutsch erschie­nen. Warum das so lange gedau­ert hat? Weil die Lie­bes­ge­schichte der bei­den Haupt­fi­gu­ren ganz ohne Nen­nung von Geschlecht auskommt.

sphinx„Ich“ liebt „A***“ – eine Romanze, die sich über alle Gren­zen hin­weg­setzt. Denn Ich ist jung und weiß, stu­diert Theo­lo­gie und arbei­tet nachts als DJ im ange­sag­tes­ten Club von Paris – A*** hin­ge­gen kommt aus New York, ist schwarz und schil­lern­der Star einer Tanz­show. Ihre Umwelt glaubt nicht, dass die bei­den zusam­men­pas­sen. Doch sie ver­bin­det unge­zwun­gene Freund­schaft und spä­ter Lei­den­schaft. Immer sind sie im Nacht­le­ben ver­wur­zelt, der schö­nen Show genauso wie den fins­te­ren Abgründen.

Geschlecht und Sprache

Funk­tio­niert ein Lie­bes­ro­man, bei dem das Geschlecht der Haupt­fi­gu­ren nie genannt wird? Aus sprach­li­cher Sicht ein for­dern­des Expe­ri­ment, gerade im Fran­zö­si­schen oder Deut­schen, die strikt gen­dern. Dem Buch gelingt her­vor­ra­gend, uns im Dun­keln zu las­sen, indem die erzäh­lende Figur nur als „Ich“ in Erschei­nung tritt und der Name der gelieb­ten Per­son bis auf den Anfangs­buch­sta­ben zen­siert wird. Beschrei­bun­gen von Kör­pern blei­ben daher begrenzt, ohne an sprach­li­cher Schön­heit zu ver­lie­ren, und umso mehr kommt in Ichs Erzäh­lung die Kon­zen­tra­tion auf den Ver­stand zur Gel­tung. Auch ohne Geschlecht erfährt man genug über die Figu­ren, um sich ein eige­nes Bild über die Cha­rak­tere zu machen. Einer­seits kre­iert das eine Pro­jek­ti­ons­flä­che für alle Geschlecht­kon­stel­la­tio­nen, die man dem unglei­chen Paar zuwei­sen möchte. Und ande­rer­seits ent­larvt die Leer­stelle, wie schnell wir ver­su­chen, Per­so­nen ein Geschlecht zuzu­wei­sen. Funk­tio­niert die Leer­stelle auch aus inhalt­li­cher Sicht? Klare Ant­wort: Ja. Das Feh­len von Geschlecht stört nach kür­zes­ter Zeit nicht mehr und wirft die Frage auf, ob es für Geschich­ten über­haupt wich­tig ist.

Inhalt­li­che Schwächen

Ich-Erzäh­ler sind Geschmacks­sa­che, und wenn sie viel über sich und wenig über andere preis­ge­ben, kann man das mögen, oder auch nicht. In „Sphinx“ prä­sen­tiert sich Ich als lei­dende, intel­lek­tu­elle Per­son, die stets die Rät­sel der Welt zu ergrün­den ver­sucht, ohne sich wirk­lich an etwas zu erfreuen. In Ichs Gedan­ken­welt ist trotz der offen­kun­di­gen Lei­den­schaft für A*** kaum Platz für die geliebte Per­son. Sie wird weder greif­bar noch leben­dig. Statt Dia­lo­gen setzt Ich alle Inter­ak­tio­nen in bis ins kleinste Detail zer­grü­belte fein­ge­schlif­fene Sätze um. A***, obwohl als schil­lernd und lebens­froh beschrie­ben, kommt fast nicht vor und erscheint manch­mal selbst nur wie eine Pro­jek­ti­ons­flä­che für Ichs Ana­ly­sen. Das kann beim Lesen ermü­dend wirken.

Mytho­lo­gie und Nacht

Domi­nant ist vor allem Ichs stän­di­ger Flirt mit dem Dunk­len, die Fas­zi­na­tion von Schein und Sein, und das Zele­brie­ren von Schmerz. In die­ses nächt­li­che Set­ting passt die Ansamm­lung mytho­lo­gi­scher Anspie­lun­gen und Hin­weise, die den Roman durch­zieht und zum Wei­ter­den­ken anregt. So stu­diert Ich zum Bei­spiel Theo­lo­gie, ist aber dem Welt­li­chen so erle­gen, dass nächt­li­che Streif­züge durch das Pari­ser Nacht­le­ben mit einem DJ-Job im Club „Apocry­phe“ gekrönt wer­den. Und gel­ten nicht die Apo­kry­phen der Bibel als außer­ka­no­ni­sche Geheim‑, oder sogar Irr­leh­ren? Im Gegen­satz dazu ist A*** im Club „Eden“ ver­or­tet, dem Para­dies, aus dem das aller­erste Men­schen­paar ver­trie­ben wurde. A*** selbst scheint die Rolle des Fabel­we­sens Sphinx ein­zu­neh­men, die immer in Rät­seln spricht und ihr Gegen­über, gelangt es zu kei­ner Lösung, verschlingt.

Viel­leicht soll der Titel des Romans uns anspor­nen, sei­nen Inhalt zu deko­die­ren und Lösun­gen und Inter­pre­ta­tio­nen zu fin­den, die beim ein­ma­li­gen Lesen ver­bor­gen blei­ben? „Sphinx“ ist auf jeden Fall sprach­lich und inhalt­lich ambi­tio­niert, doch der Roman wird nicht jedem gefal­len. Wer anspruchs­volle und melan­cho­lisch-düs­tere Win­ter­lek­türe sucht, sollte sich jedoch an die­sem lite­ra­ri­schen Kunst­werk versuchen.

Sphinx. Anne Gar­réta. Aus dem Fran­zö­si­schen von Alex­an­dra Baisch. Edi­tion Fünf. 2016.

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