Requiem for a woman

by Bücherstadt Kurier

Annie Ernaux gilt als eine der bedeu­tends­ten fran­zö­sisch­spra­chi­gen Schrift­stel­le­rin­nen unse­rer Zeit. Kaum eine ver­steht es wie sie, das Bild einer gan­zen Gesell­schaft zu schrei­ben und dabei den­noch per­sön­lich und ein­fühl­sam zu blei­ben. In die­sem Jahr erschien erst­mals die deut­sche Über­set­zung ihres bereits 1987 erschie­ne­nen Tex­tes über ihre Mut­ter. Bücher­städ­te­rin Zarah hat nicht lange gezö­gert und sich das nur 89 Sei­ten kurze Büch­lein zu Gemüte geführt.

„Meine Mut­ter ist gestor­ben, am Mon­tag, den 7. April, im Alters­heim des Kran­ken­hau­ses von Pon­toise, in dem ich sie vor zwei Jah­ren unter­ge­bracht habe. Der Pfle­ger sagte am Tele­fon: ‚Ihre Mut­ter ist heute Mor­gen nach dem Früh­stück von uns gegan­gen.‘ Das war gegen zehn Uhr.“ Mit die­sem Absatz beginnt Annie Ernauxs „Eine Frau“ und was da so sim­pel und sach­lich ein­ge­lei­tet wird, steht im Gegen­satz zu der Fas­sungs­lo­sig­keit, die der Tod mit sich führt.

Nur drei­zehn Tage nach dem Tod setzt sich die Schrift­stel­le­rin hin und beginnt zu schrei­ben, sie beginnt mit die­sem Absatz, schreibt sich an ihre Mut­ter heran und am Ende der knapp 90 Sei­ten wird sie sich an einige Details aus den ers­ten Tagen gar nicht mehr erin­nern. Dass sie gar nicht anders kann, als zu schrei­ben, wird bereits nach weni­gen Sei­ten deut­lich. Wäh­rend alle um sie herum ver­si­chern, dass der Tod der demenz­kran­ken Mut­ter sie im Grunde doch erlöst hätte, ver­sucht Ernaux zu begrei­fen: Was bedeu­tet es, wenn eine Per­son ein­fach ver­schwin­det, wenn die­ses eine Leben ein­fach vor­bei ist?

Kampf um sozia­len Aufstieg

Es ist ein lang­sa­mes Her­an­tas­ten an die Figur. Ernaux will ihr Leben erzäh­len, sie will diese Frau erzäh­len und mit ihr die Zeit, die sie geprägt hat. Ein Requiem nennt der Klap­pen­text die­ses Erzäh­len, schmerz­haft, kurz, zärt­lich, scham­voll und das trifft sehr gut Ernauxs Ton. Sie schreibt, was für eine Frau ihre Mut­ter war, wel­che Ansprü­che diese Frau an das Leben hatte, von wel­chen gesell­schaft­li­chen Nor­men sie geprägt war. Ernaux erzählt von einer Kind­heit kurz nach der Jahr­hun­dert­wende, vom Traum eines eige­nen Ladens, von Unab­hän­gig­keit, von Kin­des­tod und Ehe, von einem gro­ßen Lebenswillen.

Die Frage nach dem, was die Leute sagen und der ste­tige Wunsch nach sozia­lem und finan­zi­el­lem Auf­stieg blei­ben stän­dig die Beweg­gründe des Han­delns der Mut­ter. Als die Toch­ter es dann tat­säch­lich schafft, wovon die Mut­ter immer geträumt hat, in einen Vor­ort von Paris zieht, Schrift­stel­le­rin wird und in einen höhe­ren sozia­len Sta­tus hei­ra­tet, wird die Distanz zwi­schen bei­den immer grö­ßer. Zeit­weise lebt die Mut­ter bei der Toch­ter, nur um dann letzt­lich doch aufs Land zurück­zu­keh­ren, dort­hin, wo sie einen Namen hat.

Demenz, eine unge­heu­er­li­che Krankheit

Die Demenz der Mut­ter ent­wi­ckelt sich schlei­chend. Annie Ernaux schreibt von den Schwie­rig­kei­ten, die diese Krank­heit mit sich bringt, auch von den Ver­än­de­run­gen im eige­nen Leben. Sie nähert sich ihrer Mut­ter wie­der an, küm­mert sich um sie, ver­steht lang­sam immer bes­ser, was sie bewegte.

In zehn Mona­ten der Jahre 1986 und 1987 ent­steht die­ses Requiem und es liest sich von der ers­ten bis zur letz­ten Seite in einem tie­fen Ein­tau­chen: ein Ein­tau­chen in eine Epo­che, in ein Milieu, in ein Leben. „Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mut­ter, um sie dadurch zur Welt zu brin­gen“, heißt es an einer Stelle und genau das gelingt der Schrift­stel­le­rin – zwi­schen den Sei­ten ersteht eine Frau wie­der auf. Das ist so tief berüh­rend und zärt­lich, dass das Buch kaum aus der Hand gelegt wer­den kann. Abschnitt für Abschnitt eröff­net sich der Blick durch ein Schlüs­sel­loch – auf eine ganze Welt.

Eine Frau. Annie Ernaux. Aus dem Fran­zö­si­schen von Sonja Finck. Suhr­kamp. 2020.

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