Rom, 1978 – Rom, heute

by Wortklauberin Erika

Man ver­gisst bei­zei­ten, dass „Still­bach oder Die Sehn­sucht“ eigent­lich ein Roman sein sollte. Wort­klau­be­rin Erika hat sich auf die Suche nach die­sem fik­tio­na­len Ort bege­ben, der in Sabine Gru­bers Roman omni­prä­sent erscheint.

Ines und Clara sind beste Freun­din­nen. Ines ist gestor­ben. Sie beide stam­men aus Still­bach in Süd­ti­rol und haben gemein­sam stu­diert, ehe ihre Leben sie in unter­schied­li­che Staa­ten trie­ben. Clara lebt in Wien, Ines hatte ihre Zelte in Rom auf­ge­stellt. Auf Bit­ten der Mut­ter Ines‘ erklärt sich Clara bereit, ihre eige­nen Pläne – eigent­lich wollte sie an ihrem ganz ande­ren Vene­dig-Füh­rer wei­ter­schrei­ben – vor­erst auf Eis zu legen. Sie fährt nach Rom, um sich um die Woh­nungs­auf­lö­sung ihrer ver­stor­be­nen Freun­din zu küm­mern. Dabei ein Roman-Manu­skript zu fin­den, hat sie nicht erwar­tet. Genauso wenig wie das Auf­ein­an­der­tref­fen mit dem Frem­den­füh­rer Paul, des­sen Ver­bin­dung zu Ines ihm selbst nicht klar zu sein scheint.

Ita­lien, post-faschistisch

Ines‘ Manu­skript ist unvoll­stän­dig, und ihre Woh­nung ist voll von unvoll­ende­ten Gedan­ken, Noti­zen und Sach­bü­chern mit Hin­ter­grund­in­for­ma­tion. Es erzählt die Geschichte von Ines, die 1978 im Hotel Manente als Dienst­mäd­chen zu arbei­ten beginnt, und zugleich jene der Hotel­in­ha­be­rin Emma drei­ßig Jahre zuvor. Emma kam in der Zwi­schen­kriegs­zeit als Dienst­mäd­chen nach Rom, um ihre Fami­lie finan­zi­ell unter­stüt­zen zu kön­nen. An ihre Lebens­ge­schichte knüpft sich das wech­sel­hafte Schick­sal der Deut­schen in der ita­lie­ni­schen Haupt­stadt. Wäh­rend bis 1943 deut­sche Dienst­mäd­chen begehrt waren, wur­den sie nach der Kapi­tu­la­tion Ita­li­ens mit Stei­nen beworfen.

Ita­lien, Öster­reich und das Dazwischen

Der fik­tio­nale Ort Still­bach liegt zwi­schen den Stüh­len, zwi­schen ita­lie­ni­schem und öster­rei­chi­schem Boden irgendwo zwi­schen Bozen und der Sal­ur­ner Klause. Man­che Süd­ti­ro­ler der 1970er Jahre hal­ten an die­ser unsicht­ba­ren, nicht exis­ten­ten Grenze ihre Pässe aus dem Auto­fens­ter, wenn sie sie auf dem Weg ins ‚rich­tige‘ Ita­lien pas­sie­ren. Sabine Gru­bers Roman spielt zwi­schen dem Damals und dem Heute, zwi­schen Rom, Still­bach und Wien, wobei sich die Hand­lung auf Rom konzentriert.

Damals und Heute, Jetzt und Davor

Durch das enge Neben­ein­an­der von Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit fühlt man sich ori­en­tie­rungs­los zwi­schen dem Heute und dem Damals, dem Jetzt und dem Davor. Es wird durch den anre­gen­den, sti­lis­tisch ver­fei­ner­ten Erzähl­stil deut­lich, wie sehr die Ver­gan­gen­heit das Gegen­wär­tige bis heute durch­wirkt. Hierzu trägt nicht zuletzt auch die Figur Paul bei, einem Wie­ner, der sich als Frem­den­füh­rer und Berufs­er­in­nern­der in Rom nie­der­ge­las­sen hat. Er beschäf­tigt sich ein­ge­hend mit dem zwei­ten Welt­krieg und scheint nahezu alles über deut­sche und ita­lie­ni­sche Kriegs­ver­bre­chen sowie die Ter­ror­akte der kom­mu­nis­ti­schen Oppo­si­tion zu wis­sen. Damit wird er zu einer Schlüs­sel­fi­gur zur Klä­rung der his­to­ri­schen Umstände.

Still fließt der Bach

Sabine Gru­ber gelingt mit „Still­bach“ ein Balan­ce­akt zwi­schen his­to­ri­scher Rea­li­tät und der fik­ti­ven Geschichte von einer Gruppe von Indi­vi­duen, wie er nur sel­ten gelingt. Wenn­gleich die Geschichte in der Geschichte – Rom, 1978: Ines als Dienst­mäd­chen im Hotel Manente – auch gra­fisch gekenn­zeich­net ist, ver­gisst man beim Lesen die Grenze, wel­che sich eigent­lich zwi­schen Geschichte und Fik­tion zie­hen sollte. Man­che der erwähn­ten Kriegs­ver­bre­chen erschei­nen zu grau­sam, um real zu sein, die fik­tive Geschichte der neun­zehn­jäh­ri­gen Ines im Jahr 1978 zu real, um fik­tiv zu sein.

Mit der Wahl des gro­ßen The­mas, der Frage nach der Iden­ti­tät, der Frage nach dem Schick­sal Süd­ti­rols, reiht sich die in Lana (Süd­ti­rol, IT) gebo­rene Schrift­stel­le­rin Sabine Gru­ber in eine Reihe der zeit­ge­nös­si­schen süd­ti­ro­ler Lite­ra­tur, ver­steht es aller­dings, das Thema neu auf­zu­rol­len und abseits des übli­chen Schau­plat­zes Süd­ti­rol zu erar­bei­ten. Damit bringt sie einen erfri­schen­den Blick auf das heute als Euro­pa­re­gion gefei­erte Gebiet, der zugleich von innen und von außen kommt.

Still­bach oder Die Sehn­sucht. Sabine Gru­ber. C.H. Beck. 2011.

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