Schön, befreiend und bedrohlich wie das Meer

by Buchstaplerin Maike

Buch­stap­le­rin Maike hat sich auf der Leip­zi­ger Buch­messe die Lesung von Olja Alvir ange­hört – nun hat sie end­lich auch den Roman „Kein Meer“ gele­sen, der bei Zag­los­sus erschie­nen ist. Die gelun­gene Text­col­lage um eine Spu­ren­su­che im Jugo­sla­wi­en­krieg zieht die Leser*innen in ihren Bann, und so man­ches Mal bleibt ihnen das Lachen im Halse stecken.

lesung_olja_alvirLara ist eine junge Wie­ner Jour­na­lis­tin, und sie betreibt einen Beauty-Blog für Frauen mit Nar­ben, für Frauen mit Kriegs­er­fah­rung. Denn Lara ist als Kind mit ihren Eltern aus dem Jugo­sla­wi­en­krieg geflo­hen, was aus ihrer Iden­ti­tät nicht zu löschen ist. Das Tage­buch ihres Groß­va­ters ist der Stein des Ansto­ßes, nach den dunk­len Geheim­nis­sen der Fami­lie zu for­schen, die zwan­zig Jahre zurück­lie­gen. Was ist mit ihrem Onkel im Krieg pas­siert, was wird verschwiegen?

So glatt, wie sich der Plot des auto­bio­gra­phisch gepräg­ten Romans zusam­men­fas­sen lässt, ist das Buch nicht auf­ge­baut. Alvir reiht bewusst die unter­schied­lichs­ten Text­sor­ten anein­an­der, lässt Leer­stel­len und Fra­gen ste­hen. Den kur­siv mar­kier­ten Tage­buch­ein­trä­gen des Groß­va­ters schlie­ßen sich Blog­ein­träge an, Chat­pro­to­kolle, erzäh­le­ri­sche Pas­sa­gen, Twit­ter­feeds. Den­noch wirkt alles wie aus einem Guss, die Stile kon­kur­rie­ren nicht mit­ein­an­der. Viel­mehr zeigt Alvir auf, dass das moderne Leben aus Inter­text besteht und eine Per­son mehr als eine lite­ra­ri­sche Stimme hat. Die Leser*innen wer­den mal ganz nah an Laras Leben her­an­ge­holt, etwa wenn sie intime Texte wie SMS oder Mails oder Essay­ent­würfe durch ihre Augen betrach­ten. Dann wie­derum geben die erzäh­le­ri­schen Pas­sa­gen und die Blog­ein­träge eine Drauf­sicht auf ihr Leben, ohne dabei alles preis­zu­ge­ben. Beson­ders beein­druckt war ich von dem Fami­li­en­es­sen, bei dem Lara die Ver­gan­gen­heit und den Krieg anspricht – ange­ord­net als Thea­ter­stück, die Leser*innen sind so weit weg wie mög­lich, aber gezwun­gen, zuzusehen.

Und egal wel­che Text­form für die ein­zel­nen Frag­mente gewählt sind, sie bestechen mit aus­drucks­star­ken Beob­ach­tun­gen, etwa: „Viel­leicht müs­sen alle Dinge, die beson­ders schön und befrei­end sind, auch bedroh­lich sein. Wie das Meer, zum Bei­spiel.“ (S. 191), oder: „Die […] große Lüge ist näm­lich, dass Zeit irgend­wel­che Wun­den heilt, dass Dinge auch vor­bei­ge­hen. Bepan­then heilt Wun­den, vor­bei­ge­hen tut nichts.“ (S. 130)

„Kein Meer“ ist kein leich­tes Buch – und es ist poli­tisch auf mehr als einer Ebene. Laras bei­nahe schon ver­bit­ter­ten Beob­ach­tun­gen über all­täg­li­chen Ras­sis­mus, Sexis­mus und schein­hei­lige west­li­che Ästhe­tik wech­selt sich ab mit der all­ge­gen­wär­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Krieg und der Flucht­er­fah­rung. Olja Alvir legt den Fin­ger in die Wunde, beleuch­tet das, was die Gesell­schaft lie­ber im Dun­keln las­sen möchte, sodass Beschrei­bung von Fol­ter und man­geln­der Hygiene, Kör­per­ausschei­dun­gen und Ver­wun­dun­gen, kurz gesagt: Mani­fes­ta­tio­nen des Ekels nicht aus­ge­spart werden.

Der Schwer­punkt beim Lesen hängt sicher­lich von der eige­nen Per­spek­tive ab – so kann ich als „alt­ein­ge­ses­sene“ Deut­sche in Laras Blog­ein­trä­gen und der Beschäf­ti­gung mit Faschis­ten in der eige­nen, gelieb­ten Fami­lie mehr wie­der­fin­den als in ande­ren Pas­sa­gen. Den­noch ist die­ser Roman für mich, die zur Zeit des Jugo­sla­wi­en­kriegs viel zu klein war, die erste zugäng­li­che Auf­ar­bei­tung aus Sicht Betrof­fe­ner, sodass gerade diese Text­frag­mente für mich inter­es­sant sein müssen.

Viel­leicht bin ich schon vor­ein­ge­nom­men, aber für mich ist „Kein Meer“ von Olja Alvir ein Geheim­tipp aus einem klei­nen Ver­lag. Schreck­lich (und) schön, femi­nis­tisch und poli­tisch, ein Kom­men­tar auf den heu­ti­gen Umgang mit Text und nicht zuletzt ein Appell, Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart aufzuarbeiten.

Kein Meer. Olja Alvir. Zag­los­sus. 2015.

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